Allein die Überzeugung zählt

Russland In Deutschland scheint es inzwischen beinahe ausgeschlossen, sich einem Thema wie dem „Fall Nawalny“ unvoreingenommen zu nähern
Alexander Murachowski, Chefarzt der Klinik in Omsk, hat Berichte dementiert, er und sein Personal seien von russischen Sicherheitsbehörden beeinflusst worden
Alexander Murachowski, Chefarzt der Klinik in Omsk, hat Berichte dementiert, er und sein Personal seien von russischen Sicherheitsbehörden beeinflusst worden

Foto: imago images / ITAR-TASS

Als im Sommer 2013 nach einem sicheren Ort für den amerikanischen Whistleblower Edward Snowden gesucht wurde, war man in Deutschland weit weniger eifrig. Statements des Bundespräsidenten – Fehlanzeige. Warnende Worte der Kanzlerin an die US-Regierung – nie gehört. Auch ein Flugzeug besorgter Zivilgesellschaftler hob nirgendwo ab, um Snowden hereinzuholen und zu retten.

Bei Alexej Nawalny ist das erkennbar anders, was u.a. damit zu erklären ist, dass seine Bedeutung für die deutsche Politik um einiges größer ist als seine Bedeutung für die Politik in Russland – Nawalny ist der Kronzeuge gegen „das System Putin“. Solange der Verdacht besteht, er könnte bewusst geschädigt worden sein – gilt das mehr denn je. Aber auch ohne den klaren Beweis einer Vergiftung wird sich daran prinzipiell nichts ändern.

Aufbruch der Gefühle

Sicher muss aufgeklärt werden, was Nawalny in der vergangenen Woche widerfahren und wer dafür verantwortlich ist, aber das sollte ohne reflexhafte Vorverurteilung geschehen, die hierzulande Politik und Medien wie eine Pandemie erfasst hat, gegen die sich so gut wie niemand zu schützen wagt. Im Übrigen sollte Nawalny soviel Gerechtigkeit zuteil werden, dass normalerweise unverhandelbare Werte wie die ärztliche Schweigepflicht nicht zur Disposition stehen.

Die Badischen Neuesten Nachrichten kommentierten vergangenen Samstag zu Nawalny: „Militärisch können Deutschland und die Europäer die russischen Streitkräfte nicht unter Druck setzen.“ Da klingt Bedauern an. Es wäre demnach wünschenswert – wenn auch im Moment angesichts der Kräfteverhältnisse zu riskant –, wegen eines noch nicht aufgeklärten gesundheitlichen Zusammenbruchs einen militärischen Konflikt auszulösen? Was sonst ist gemeint, wenn die russische Armee „unter Druck“ gesetzt werden soll? Die Ratio kommt ziemlich kurz bei einem derartigen Aufbruch der Gefühle. Die Gesinnung ersetzt, was das militärische Vermögen schuldig bleibt.

Furor des Verdammens

Eine völlig überzogene Ausdeutung einer an sich doch „harmlosen“ Bemerkung? Wirklich? Ist „militärischer Druck“ nicht nur dann glaubwürdig, wenn er notfalls einen Krieg ins Kalkül zieht? Und wann gab es den letzten gegen Russland bzw. die Sowjetunion?

Da wird etwas hingeschrieben und ist aus unverhältnismäßigem Anlass geeignet, Feindschaften zu schüren und Feindbilder zu schärfen. Einmal entfacht, lässt sich der Furor des Verdammens schwer wieder eindämmen. Dabei bleiben nicht zuletzt Normen auf der Strecke, die für den Umgang von Ärzten mit ihren Patienten unerschütterlich sein sollten. Doch gelten im „Fall Nawalny“ offenkundig andere Maßstäbe. Tatsächlich wird ja mindestens der „Fall Russland“, eigentlich aber der „Fall Putin“ verhandelt. Und das nicht zu knapp.

Es darf daher von außen Druck auf die Ärzte des Klinikums in Omsk ausgeübt werden, damit die ihre Verantwortung für einen Patienten aufgeben, sobald das nicht nur von der Familie, sondern auch von interessierter Seite aus dem Ausland gewünscht wird. Wie ist das in deutschen Krankenhäusern geregelt? Haben da Mediziner ebenfalls umgehend die Finger von behandelten Schwerkranken zu lassen, sofern die Umstände vergleichbar sind?

Alexander Murachowski, Chefarzt der Klinik in Omsk, hat Berichte dementiert, er und sein Personal seien von russischen Sicherheitsbehörden beeinflusst worden. Er gab zu Protokoll: „Wir haben den Patienten versorgt, und wir haben ihn gerettet. Es gab keinen Einfluss von außen auf die Behandlung des Patienten.“ Trotzdem sahen sich seine Ärzte genötigt, Auskünfte über Nawalnys Zustand und seine Transportfähigkeit zu geben, um dem Verdacht zu entgehen, etwas zu vertuschen und gedungene Handlanger des Kreml zu sein.

Nach allem, was bekannt ist, befand sich Nawalny auf dem Flug nach Moskau. Niemand konnte damit rechnen, dass seinetwegen die Maschine in Omsk notlanden musste. Niemand konnte also vorsorglich medizinisches Personal in den Hospitälern einer sibirischen Millionenstadt gegen willfährige Gefolgschaft austauschen. Es mutet geradezu irrwitzig an, eine solche Möglichkeit auch nur anzunehmen. Aber mit den logischen Brüchen in ihrer Version der Ereignisse halten sich die Nawalny-Schirmherren nicht auf.

Wozu Beweise?

Auch scheint es wenig zu stören, wird der Eindruck erweckt, dass russische Mediziner schlechter, vor allem aber weniger glaubwürdig als deutsche sind. Wie das von Politikern wie Journalisten nicht nur unterschwellig kolportiert wird, ist peinlich und beschämend zugleich. Freilich wird der argumentative Korridor, diesem Zwang und Hang zur Uniformität zu entgehen, hierzulande inzwischen bei immer mehr Themen immer enger.

Geht es um Russland, ist das besonders evident. Vor allem ist es eingeübt und normiert. Sollte sich herausstellen, dass Nawalny geschädigt, womöglich vergiftet wurde, wer kann es dann riskieren, sich der Lesart zu verweigern, der Kreml – die Regierung – Wladimir Putin persönlich – haben das zu verantworten. Es kann gar nicht anders sein. Mutmaßlich kam der Befehl aus der Präsidialkanzlei. Wozu auf Beweise warten, wenn sich mit der richtigen Überzeugung gleich zuschlagen lässt?

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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