Revolution ist das Morgen schon im Heute, sang einst die Klaus Renft Combo in der DDR. Wenn das stimmt, was ist dann die Erinnerung an eine Revolution? Das Gestern im Heute oder ein notorischer Reflex gegen die rumorende Angst, dass Geschichte ihr Glück als Wiederholungstäterin versucht? Die Oktoberrevolution zum Beispiel mit ihrer unbeirrbaren Radikalität, ihrem Siegeswillen, ihrer Rohheit? Aber die Bolschewiki kehren nie mehr zurück. Sie fielen bekanntlich Stalin zum Opfer. Und der Leninismus wird kaum erwähnt, wenn derzeit inbrünstig dem Marxismus gehuldigt wird, als sei ernsthaft daran gedacht, Theorie in revolutionäre Energie zu überführen und nicht im Café mit WLAN-Anschluss darüber zu räsonieren. Es kann daher wenig bis nichts ins Rutschen kommen, wird eine Revolution dem Vergessen entrissen, die so schwer zu tragen hat an vergeblichen Hoffnungen, verhängnisvollen Irrtümern, üppigen Illusionen, atemloser Ungeduld. Warum verströmt dann die im Deutschen Historischen Museum Berlin (DHM) eröffnete Ausstellung 1917. Revolution. Russland und Europa viel Selbstvergewisserung und noch mehr Zeitgeist? Um bei Renfft zu bleiben: Warum verharrt das Heute im Heute?
Auch wenn die Flut der Geschehnisse vor 100 Jahren professionell gebändigt wird, auf dass sie im ruhigen Fluss am Betrachter vorbeigleitet – es wird allzu sehr im Wissen um das Ende der Geschichte von deren Anfang erzählt. Andererseits, wie soll man einer siegreichen Revolution gerecht werden, die einem inzwischen verlorenen Staat und System auf die Weltbühne half? Die erst nach gut 70 Jahren, aber dann unwiderruflich gescheitert ist?
Die Frage muss erlaubt sein, denn die Ausstellung wirft sie nicht auf: Was wäre geschehen, hätte die deutsche Novemberrevolution mehr zustande gebracht als eine Republik, in der bestens überwintern konnte, wer sie brachial überwinden wollte und 1933 am Zug war? Weil 1918/19 das übrige Europa die Umwälzung schuldig blieb, konnte die russische Revolution nicht europäisiert werden. Mancher wird sagen – zivilisiert werden. Die Bolschewiki waren vor die Alternative gestellt, aufgeben oder den Sozialismus nur in einem Staat errichten, den eine Welt von Feinden umgab.
Gemeinsames Weltunglück
Rosa Luxemburg konnte die aus solcher Isolation erwachsenden Konsequenzen und Deformationen 1918 nur erahnen. Ungeachtet dessen beschrieb sie in ihrer grandiosen Studie Zur russischen Revolution das Versagen des Proletariats, besonders in Deutschland und Frankreich, als „internationale Schuld“ und „gemeinsames Weltunglück“. Bis auf Episoden wie die Münchner und Ungarische Räterepublik wollte niemand das Wagnis riskieren, seine Welt so aus den Angeln zu heben wie die Russen die ihre.
Die DHM-Kuratoren haben das ebenso dokumentiert wie den Umstand, dass immerhin große kommunistische Parteien in Deutschland, Italien und Frankreich im Sog der Oktoberrevolution entstanden und sich „Sektionen der Kommunistischen Internationale“ nannten. Leider blenden sie aus, weshalb die aus heutiger Sicht absurde geistige Kasernierung in einer „Weltpartei“ damals als logisch begriffen wurde. Nach dem Weltkrieg schien die Zeit reif für die Weltrevolution, und die Bolschewiki wollten mit ihrem kühnen Wurf vorangehen. Sie waren die Ersten, doch wollten die Einzigen nicht bleiben. Der historischen Mission bewusst, erhob Lenin seine Sowjets zu „Jakobinern des 20. Jahrhunderts“, was die sozialistische Oktoberrevolution von 1917 neben die bürgerliche Revolution von 1789 in Frankreich stellte, die, wenn nicht glorifiziert, so doch bis heute mit einem Nationalfeiertag gewürdigt wird.
Beide Revolutionen standen auf der Schwelle zu einem neuen Zeitalter, hielten Erbarmungslosigkeit gegenüber ihren Feinden für eine Tugend und radikalisierten sich um ihrer selbst willen, je länger sie dauerten: die französische 1793 mit der Jakobinerdiktatur und dem revolutionären Terror des Revolutionstribunals, die russische 1918 mit der Diktatur der Sowjets und dem Kriegskommunismus der Tscheka, als gegnerische Armeen von allen Seiten aufmarschierten. Durch die Vorstöße französischer, britischer, amerikanischer und deutscher Truppen, dazu die „weißen Armeen“ Denikins und Koltschaks, schrumpfte das Territorium der Bolschewiki zeitweilig auf ein Fünfzehntel des Zarenreiches. Lenin argumentierte in dieser Lage nicht anders als ehedem Robespierre, dem das vereinte feudalistische Europa zusetzte: Eine Revolution, die sich nicht zu verteidigen weiß, ist es nicht wert, die Geschichte zu behelligen.
Auch wenn die Ausstellung den so zwingenden wie brutalen Kausalitäten nicht die gebührende Aufmerksamkeit schenkt, tut sie recht daran, neben Lenin Leo Trotzki fast gleichrangig zu behandeln. Ohne den Volkskommissar für Verteidigung, der mit seinem Panzerzug im Bürgerkrieg von Front zu Front pendelte, hätte es die Rote Armee und das Überleben des Sowjetstaates kaum gegeben. Trotzki besaß die Fähigkeit, getroffene Entscheidungen zu korrigieren. Erst auf ein Volksheer ohne Rangordnung bedacht, begriff er schnell, dass sich nur eine professionelle Armee gegen die Übermacht der Invasion behaupten konnte. Als die 1921 überstanden und Ende 1922 die Sowjetunion gegründet war, konnte sich das Land nur mühsam erholen und hatte doch ein Jahrzehnt vor Augen, das einen steten Aufbruch in die Moderne verhieß, bis der Stalinismus vieles davon – nicht alles – erstickte.
Die Schau des DHM widmet sich dem „Laboratorium der 1920er Jahre“, indem sie vor allem die Kunst der Revolution aufgreift, ohne ihr freilich erschöpfend gerecht zu werden. Es wird der Konstruktivismus eines Malewitsch zitiert, auf den plakativen Realismus von Malern wie Konstantin Juon und Isaak Brodski verwiesen. Etwas zu kurz kommen die Filmkunst Sergej Eisensteins und der zärtliche Blick durch die Kamera eines Regisseurs wie Dsiga Vertow. Gleiches gilt für das Theater der Antipoden Meyerhold und Stanislawski oder den Mut zum historisierenden Massenspektakel, wie ihn Majakowski mit seiner Revue Mysterium Buffo aufbrachte. Und was wäre ein Revolution ohne ihr literarisches Gedächtnis, das in diesem Fall von Katajews Es blinkt ein einsam Segel über Babels Reiterarmee bis zu Fedins Städte und Jahre wie Gorkis Essayistik über das Verhältnis von Kultur und Revolution reicht?
Die Kunst des Aufstands
Die ästhetische Aura der Ausstellung zehrt gleichsam vom sinnfälligen Detail, Lenins Teeglas etwa, seinem Teesieb und Papiermesser, die er bei sich hatte, als er im Frühjahr 1917 im Zug vom Asyl in Zürich zum Aufruhr in Petrograd unterwegs war. Die deutsche Oberste Heeresleitung (Ludendorff) ermöglichte den Transit durch Deutschland, weil Lenin und sein Anhang Kerenskis provisorische Regierung und ein ausgelaugtes russisches Heer so weit zu schwächen versprachen, dass die Kapitulation unumgänglich sein würde. Taktisches Kalkül verhalf zur epochalen Zäsur, auch wenn die Akteure danach wieder zu gewohnter Schlachtordnung fanden. Was schon beim für die Sowjets demütigenden Friedensschluss von Brest-Litowsk im März 1918 der Fall war. Lenin hatte bis dahin gehalten, was er versprach. Er beherrschte, wie es Marx einmal formulierte, die „Kunst des Aufstandes“ und erkannte den richtigen Zeitpunkt, um loszuschlagen. So wurde am 7. November 1917 ein Coup d’Etat abgeliefert, der perfekt gelang. Der Tag hatte einen Jahrhundertweg im Tross. Ihn gewagt zu haben, ist als Vermächtnis aller Ehren wert.
Info
1917. Revolution. Russland und Europa Deutsches Historisches Museum Berlin, bis 15. April 2018
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