Als wir verstummten

Medien Obwohl sich das „Ostfernsehen“ 1989/90 gründlich erneuert, bleibt ihm eine gesamtdeutsche Zukunft verwehrt
Ausgabe 38/2019

Es knirscht im Gebälk, Putz rieselt von der Decke, aber das Haus steht noch. Soll man besser in den Keller oder endlich das Weite suchen, um durchzuatmen, aufzuatmen, überhaupt zu atmen. Ich habe im Herbst 89 häufig das Gefühl, wir sitzen im Fernsehzentrum Berlin-Adlershof mitten im Beben und sehen von draußen zu, was es anrichtet. Das unweigerlich gespaltene Bewusstsein, im Moment von Krise und Katharsis gleichzeitig Betroffener und Beobachter zu sein. Seit Ende Oktober arbeite ich als Redakteur und Moderator für das neue Nachrichtenjournal Ak zwo, das am 30. Oktober erstmals auf Sendung geht, fortan jeden Tag 22.00 im II. Programm des Deutschen Fernsehfunks (DFF) ausgestrahlt wird und alles andere als improvisiert daherkommt. Die Agenda für ein auf Journalismus, nicht Dogmen vertrauendes Magazin liegt seit langem in der Schublade. Nach der Grenzöffnung am 9. November wird 3sat die Ak zwo ins Abendprogramm übernehmen.

Unglaubliches und Ungeahntes hat sich nach der erzwungenen Demission von Agitationssekretär Joachim Herrmann zugetragen, der am 18. Oktober zusammen mit SED-Generalsekretär Honecker abtreten musste. Über Nacht finden sich die DDR-Medien politischer Mündigkeit überlassen, was das „Ostfernsehen“, wie die Adlershofer Anstalt – nicht nur wegen ihrer Herkunft, auch aus Gründen der politischen Zuordnung umgangssprachlich genannt wird – in Wendewut versetzt. Der DFF erfindet sich nicht neu, aber erneuert sich unentwegt.

Zwischen Ende Oktober 1989 und April 1990 entstehen 39 neue Sendeformate für beide Programme, darunter Magazine wie Klartext (Inland), Meridiane (Ausland) Kaos (Kultur) oder Ozon (Umwelt), die Talksendungen Disput und Donnerstagsgespräch, die – bis dahin undenkbar – live bei aktiver Teilhabe der Zuschauer ausgestrahlt werden. Es gibt das Kabarettprogramm Der Scharfe Kanal und die Reihe Nachdenken über Deutschland mit Prominenten aus Ost und West. Ab dem 13. Februar 1990 wechselt Günter Gaus mit seiner Sendung Zur Person – Porträts in Frage und Antwort zum DFF. Der Sender überträgt die Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November 1989 und jede Sitzung des Zentralen Runden Tisches, seit der ab Anfang Januar 1990 im Casino des Schlosses Berlin-Niederschönhausen tagt. Hat die Nachrichtensendung Aktuelle Kamera (AK) bis Mitte Oktober nicht von Protesten und Polizeiübergriffen berichtet, steht sie mit ihren Teams nun mitten im Geschehen und verbucht eine Zuschauerresonanz um die 40 Prozent.

Am 1. September 1989 bereits hat das Jugendmagazin elf99 seine Jungfernfahrt angetreten und soll die 14- bis 25-Jährigen zurückgewinnen, die sich innerlich von der DDR verabschiedet haben und nicht selten auf gepackten Koffern sitzen. Die Einschaltquote der Erstsendung lässt hoffen, immerhin werden 24 Prozent aus der Zielgruppe erreicht. Was während des Auftakts niemandem entgeht, ist die Frage des elf99-Moderators an den Philosophen Erich Hahn: „Was ist los mit dem Sozialismus?“ Dessen Antwort: „Tja, was soll man da sagen?“

Die Ewige Lampe

Das Fernsehen sendet permanent live, seine Allgegenwart kann unumkehrbare Tatsachen schaffen. So ist es nur folgerichtig, dass nach der Nacht der Nächte vom 9. zum 10. November 1989 die Kette der Live-Schalten nicht abreißt. Reporter von elf99 halten auf dem Kurfürstendamm in Westberlin Ausschau nach Leuten in Anorak und Stonewash-Jeans, mit Sektkelch und Apfelsinennetz, um von Gefühlsausbrüchen überschwemmt zu werden. Die stets gleiche Schnittfolge Interview-Straßentotale–Gewühl–hektisch winkende Menschen–Autoscheinwerfer–Gewühl–Interview wird zur Endlosschleife, die Berichterstattung wirkt wie eine Flucht in flüchtige Bilder. Als sollte den Ereignissen das Leichte, Flirrende, Irrlichternde auf Ewigkeit bewahrt sein. Die heraufziehende Einheit kracht unversehens in jeden Schoß, der sich die Blöße des Unbefleckten nicht geben kann. Keiner wagt es, den Wechselbalg vielleicht besser abzutreiben. Wie denn? Warum denn, wenn ihn die gütige Mutter Geschichte schon an nackten Spinnenbeinen ans Licht zerrt? Die Sturzgeburt scheint überstanden, bevor sie durchlebt ist.

Ich erinnere mich der mittäglichen Redaktionsbesprechung vom 9. November, als auch die Ak zwo vom nächsten Tag kurz gestreift wird. Im Angebot ist der Bericht über einen sensationellen Fund, den es beim Wiederaufbau der Neuen Synagoge am Rand des Ostberliner Scheunenviertels gegeben hat. Beim Enttrümmern des einstigen Trausaals sind Bauarbeiter auf die Ewige Lampe (Ner Temid) gestoßen, die in einem jüdischen Gotteshaus die Heilige Lade, den Ort zur Aufbewahrung der Thora-Rollen, schützt und beschirmt. Gespendet hatten sie für die Synagogen-Weihe am 5. September 1866 Adolph und Cäcilie sowie Julius und Lydia Jacoby, vier Bürger Berlins aus der damaligen jüdischen Reformgemeinde.

Plötzlich taucht etwas für immer verloren Geglaubtes wieder auf und nährt die Versuchung, mit einem kleinen Film darüber in die Ak zwo vom 10. November einzusteigen und für einen Augenblick der unablässig hinabstürzenden Ereignislawine zu entkommen. Was sich am 10. November nicht mehr aufrechterhalten lässt, doch wenigstens der Epilog dieses Tages gebührt der Lampe aus Kupfer und Rost.

Das Ostfernsehen ist mit sich und seiner inneren Einkehr noch längst nicht fertig, da wird es schon wieder zum Getriebenen. Diesmal nicht autoritärer Obrigkeiten, sondern der vermeintlichen Unwiderruflichkeit des „Einig Vaterland“. Zwei Jahre später frage ich Hans Bentzien, als erklärter Reformer ab Dezember 1989 für sechs Monate Generalintendant des DFF, nach seinem Eindruck von Selbstbesinnung und Selbstbestimmung im Wendeherbst. Unser Interview ist für den Dokumentarfilm Ostfernsehen gedacht, der kurz vor der Liquidierung des DFF ausgestrahlt werden soll, damit der Sender nicht sang- und klanglos von der Bühne muss. „Wenn man einem Menschen, dem der Mund verbunden war, die Binde wegnimmt“, sagt Bentzien, „dann schreit er, und man kann nicht immer verstehen, was er will. Jedenfalls drehte die Adlershofer Publizistik in einer Weise auf, dass wir gar nicht mehr wussten, sind das die gleichen Leute wie früher.“

"Altlast des SED-Regimes"

Der DFF kann mit den frisch erworbenen Tugenden Unabhängigkeit, Staatsferne und Bürgernähe renommieren – der Weg in die gesamtdeutsche Zukunft als dritter öffentlich-rechtlicher Sender neben ARD und ZDF bleibt ihm dennoch – oder deshalb? – versperrt. Um zu beschreiben, was dem Sender droht, bietet sich die Umkehrung eines Hölderlin-Verses an: Wo aber Rettendes ist, wächst die Gefahr auch. Im Mai 1990 hat die CDU-West über ihren Medienpolitiker Bernd Neumann erklärt, der DFF gehöre als „Altlast des SED-Regimes“ abgeschaltet. Ein Verdikt, das zur materiellen Gewalt wird, als die nach der Volkskammerwahl vom 18. März 1990 gebildete Regierung de Maizière (CDU-Ost) immer mehr in den Sog einer künstlich beschleunigten Wiedervereinigung gerät. Der dazu ausgehandelte Einigungsvertrag sieht in Artikel 36 vor, das Hörfunk und Fernsehen der DDR in föderale Strukturen unter Länderhoheit überführt oder aufgelöst werden. Da die ostdeutschen Länder – sie werden erst nach dem Einigungsvertrag gegründet – den DFF als Mehrländeranstalt nicht wollen, ist sein Schicksal besiegelt. Ein politischer Platzverweis, bei dem jeder Versuch des Widerstandes noch nicht einmal die Chance kulturvoller Behandlung erwarten darf. Am 31. Dezember 1991 geht mit der letzten Nachrichtensendung um 19.30 Uhr ein ganzer Sender vom Netz.

Für Jahre will ich danach das Fernsehgelände nicht mehr betreten. Es führt kein Weg zurück. Erst im Frühsommer 1994 stehe ich wieder vor dem rot-weißen Schlagbaum, der seine Immunität gegen Systemwechsel ausstellt. Ein fast schon tröstlicher Gedanke beim Erinnerungstrip durch ein abgelegtes Leben, das mehr als ein Arbeitsleben war. Hinter dem Haupteingang versickert die Zeit. Sie scheint stehengeblieben statt vorangekommen. Auf dem Parkplatz vor der einstigen „Wanne“ mit der Sendeabwicklung links, dem Bistro in der Mitte und dem einstigen Nachrichtenstudio sind auf rissigem Asphalt noch Schriften sichtbar, die einmal eine Parkordnung markierten: „Chefredaktion AK“, „Programm“, „Sport“.

Auf den verwaisten Platz blicken leere Fenster, als wollten sie jeden Zweifel am Dämmerzustand eines Gebäudes zerstreuen, das mit dem DFF-Versuchsprogramms, ausgestrahlt ab 21. Dezember 1952, als eines der ersten gebaut wurde. Zunächst spielte im späteren Nachrichtenstudio das Fernsehtheater Lessing, Büchner, Brecht, Erwin Strittmatter und Max Frisch. Alles wurde live gesendet mit allen Risiken, die sich durch Umbau, Beleuchtungswechsel, die anwesenden Zuschauer oder die Tagesform der Schauspieler ergaben. Zum Jahreswechsel 1952/53 las hier Eduard von Winterstein aus Lessings Nathan der Weise. Getreu Johannes R. Bechers „Deutschland, einig Vaterland“ galt der DDR die Einheit der Kulturnation als hohes Gut, was sich erst nach 1961 spürbar ändern sollte.

In die neue Zeit

Mich erstaunt eine Entdeckung kurz vor der „Wanne“. An einer Säule hängen Reste eines Aufklebers, der wahrscheinlich im Herbst 89 dort platziert wurde, um von trotziger Selbstbehauptung zu erzählen. „Der ‚Schwarze Kanal‘ ist verschwunden – zwei Kanäle sollen bleiben“, steht auf grauem Papier. Was sich wie folgt erklärt: Als am 30. Oktober 1989 DFF-Chefkommentator Karl-Eduard von Schnitzler mit seinem gern das Westfernsehen vorführenden Schwarzen Kanal das Feld räumen muss, sehen das viele Kollegen als zukunftsträchtigen Vorgang. Sich reinigen, heißt überleben. Solange die DDR noch existierte, mochte das zutreffen. Die von ihren Belegschaften gewählten (!) neuen Chefs ermutigten mit der Versicherung, das Fernsehen/Ost müsse den Weg der Menschen/Ost in die Marktwirtschaft „begleiten“. Auch ich nahm diese Sprachregelung dankbar auf, als Leumundszeugnis, als Persilschein oder als Fahrschein welcher Klasse auch immer für einen Trittbrett auf dem Zug in „die neue Zeit“, über die man im Osten soviel weniger wusste, als man zuzugeben bereit war. Aller Vorahnung zum Trotz.

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Lutz Herden arbeitet seit 1994 für den Freitag

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