Arabischer Frühling, russischer Winter

Russland Noch erfassen die Proteste gegen die administrative Anmaßung des Staates nur eine Minderheit in Moskau und St. Petersburg. Doch es gärt im sozialen Unterbau

Über einen Hauch von arabischem Frühling im russischen Winter wird berichtet, wenn es um Proteste und Demonstrationen in Moskau und St. Petersburg geht. Der Vergleich klingt rassig und hat es verdient, mit den Realitäten des besagten Frühlings abgeglichen zu werden. Als der in Fahrt und auf Temperatur kam, dass er Präsidenten in die Flucht schlug, waren in Tunis, Kairo oder Sanaa Hunderttausende unterwegs. In der russischen Hauptstadt sind es vorerst ein- bis zweitausend.

Wer als Journalisten beim Wort genommen sein will, sollte dasselbe wie einen schlechten Pfennig prüfen. Besser zweimal als gar nicht. Statt hitziger Metaphern helfen Analysen. Als ein Kriterium bietet sich das Resultat der Duma-Wahl an, dem entnommen werden kann: das nationalpatriotische und letzten Endes staatstragende Lager, zu dem neben Einiges Russland auch die Partei Gerechtes Russland zählt, verfügt über ein Stimmenpotenzial von 60 bis 65 Prozent. Haben Wahlmanipulationen dazu beigetragen, dieses Resultat zu erzielen, dann doch wohl nicht in einem Umfang, dass sich die Kreml-Partei einen Stimmenvorteil von 20 Prozent und mehr verschafft hat. Wer in diesen Dimensionen betrügt, riskiert aufzufliegen und politisch so schwer Schaden zu nehmen, dass sich angestrebte Präsidentschaften erledigt haben. Inzwischen auch in Russland.

Keine Avantgarde des Umbruchs

Eines jedoch zeichnet sich unzweifelhaft und zu Lasten des Regierungslagers ab. Die Post-Jelzin-Ära, die Ende 1999 mit der überraschenden Präsidentschaft von Wladimir Putin begann, hat ihren Zweck erfüllt. Russlands nationaler Ausverkauf ist abgewehrt, eine traditionell autoritäre Staatlichkeit wieder ökonomisch grundiert, der Nationalpatriotismus als ideelle Bastion mit dem gebotenen Stellenwert versehen. Auch international gilt der Abschied von der weltpolitischen Dominanz einer einstigen Supermacht – die sich mit der Statur einer Regionalmacht abfindet, aber dem Willen zur Großmacht nicht abschwört – als verkraftet.

Mit einem Wort, Medwedjew und Putin haben mit ihrem Etatismus und den Ressourcen einer auf dem Weltmarkt gut situierten Rohstoffökonomie schwere Stabilitätsanker geworfen. Doch genügt das offenbar nicht, die soziale Stagnation zu überwinden. Staatliche Stabilität und individuelle Wohlfahrt driften für den Teil der Bevölkerung auseinander, der die Mehrheit stellt und nie in den Genuss kommt, als Nomenklatura privilegiert zu sein. Die Demonstranten von Moskau und St. Petersburg könnten insofern die Vorboten einer vorerst noch schweigenden, im Unterleib der Gesellschaft rumorenden Unzufriedenheit sein. Die Avantgarde eines Umbruchs ist sie (noch) nicht.

Immerhin verbleiben der Kreml-Administration Möglichkeiten, eine soziale Erosion aufzuhalten, wenn die Russische Föderation in diesem Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von vier Prozent deutlich über dem europäischen Durchschnitt liegt. Was nichts daran ändert, dass die demografische Großmacht Russland ausgespielt hat. Stattdessen ist der Staat gefordert, bei einer überalterten und schrumpfenden Gesellschaft die stetig wachsende Zahl von Pensionären mit menschenwürdigen Bezügen auszustatten. Kaum etwas kann die Stimmung empfindlicher drücken, als eine Durchschnittsrente von umgerechnet 240 Euro, deren Auszahlung bereits zu 27 Prozent durch Zuschüsse aus dem Staatshaushalt gesichert wird.

Das wird sich zeigen

Dass sich die demografische Talfahrt in den nächsten Jahren beschleunigt, geht aus einer staatsoffiziellen Prognose hervor. Danach dürfte sich die Zahl der Ruheständler von momentan 30,5 Millionen (Gesamtbevölkerung: 142,8 Millionen) bis 2025 auf über 40 Millionen erhöhen, während die arbeitsfähige Bevölkerung im gleichen Zeitraum von 87,5 auf voraussichtlich 76,5 Millionen schrumpft. Ein brisanter Trend, der als ein Indikator anzeigt, wodurch Russland schon bald ökonomisch überfordert sein könnte. Wer politisch gegensteuern will, kann über eine Erhöhung des Renteneintrittsalters nachdenken – bei Frauen von 55 auf 60 Jahre, bei Männern von 60 auf 65. Freilich sind die Wochen vor einer Präsidentenwahl ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, derart explosiven Themen näher zu treten. So wird Wladimir Putin bei seiner dritten Präsidentschaft nicht zuletzt die ungelösten sozialen Konflikte aus seiner ersten und zweiten Amtszeit erben. Sie können für Unruhen sorgen, die in den Schatten stellen, was derzeit geschieht. Ob dann ein russischer Frühling anbricht und dem arabischen gleicht, wird sich zeigen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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