Revolutionen sind wie Glühwürmchen, nicht zu sehen im Schoße eines Tages, dessen Zeit in stupidem Gleichmaß verrinnt, aber voller Leuchtkraft, wenn die Nacht über ein Land hereinbricht. Dann schlägt ihre Stunde, dann kann eine ganze Welt in ihr Licht getaucht, davon elektrisiert und erschüttert sein. Doch was jäh aufscheint, verglimmt auch wieder. Oft schneller als gedacht.
Hatte nicht in Ägypten alles so verheißungsvoll begonnen? Der Mubarak-Sturz am 11. Februar 2011 mutete an wie der Sturm auf die Bastille, der am 14. Juli 1789 eine Welt erschüttert hatte. Die ägyptische Revolution lebte wie einst die französische davon, die Bedürfnisse ihrer Zeit und einer ganzen Region auszudrücken. Millionen waren im Begriff, na
egriff, nach dem eisernen Besen zu greifen, weil sie glaubten, ihre Gesellschaft brauche genau den. Denn als der Sturm gegen das Ancien Régime losbrach, waren dafür vor allem zwei Gründe maßgebend: Die von einer Autokratie verhängte gesellschaftliche Blockade und die grassierende Verelendung eines urbanen Prekariats, dessen Not lange dank der Wohltätigkeit islamischer Netzwerke – besonders der Muslim-Brüder – gemildert wurde. Als aber 40 Prozent der Bevölkerung über weniger als zwei Dollar am Tag verfügten, sprengte das die Grenzen des Erträglichen.Leider fehlte es den Revolutionären des Tahrir-Platzes, als die unvermeidliche Übergangsperiode begann, an einer revolutionären Programmatik, die der Frage nicht auswich, sollte nach dem Präsidenten auch ein System fallen, das Millionen Ägyptern ein Leben jenseits von Gerechtigkeit und Menschenwürde zumutete? Die technokratische und militärische Elite war sich dieser Möglichkeit sehr wohl bewusst. Sie setzte der revolutionären Vehemenz der Straße umgehend die restaurative Dynamik des von ihr beherrschten Staates entgegen. Nichts hat die Revolution mehr verhöhnt als das 16 Monate währende Interregnum des Rates der Streitkräfte, präsidiert von einem Mubarak-Getreuen, der tat, wozu er gerufen: Marschall Hussein Tantawi bewältigte das Erbe des alten Regimes, indem er es nicht antastete. Nur erwies sich diese Machtalternative – weder demokratisch legitimiert noch in der Lage, der prekären Ökonomie Ägyptens gerecht zu werden – irgendwann als so verbraucht, dass mit den Muslim-Brüdern eine Machtreserve in Betracht kam. Nichts offenbarte den taktischen Rückzug des Establishments sinnfälliger als die Erbötigkeit, mit der sich Tantawi am 12. August 2012 von Präsident Mursi abservieren ließ, um General al-Sisi als Verteidigungsminister Platz zu machen. Die Restauration trat in den Hintergrund, während sich die Tahrir-Aktivisten als Pioniere der Revolution den Profiteuren der Revolution ergaben – Mursi und Anhang.Wer sich großer Umbrüche der Weltgeschichte erinnert, stößt unweigerlich auf retardierende Momente einer revolutionären Dramaturgie. Nach dem Sturm auf die Bastille saß Louis XVI. zunächst weiter auf dem Thron, der Adel fand sich kaum um seine Privilegien gebracht, das Heer blieb erhalten – auch hier rang revolutionäre mit restaurativer Dynamik. Doch hatte sich die französische Revolution noch 1789 mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte eine Magna Charta gegeben, die im Sinne ihres Credos Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit den feudalen Klassenstaat zum Anachronismus stempelte. Davon ermutigt, räumten die Massen 1792 beim Tuilerien-Sturm erst die Monarchie und mit dem Marsch auf den Konvent ein Jahr später die Gironde-Bourgeoisie aus dem Weg. Mit dem Staat der Jakobiner hatte die Revolution endgültig den Überbau erreicht und sich mit ihrer Basis versöhnt.Dass in Ägypten der Umsturz von 2011 in keine Magna Charta des Systemwechsels mündete, erweist sich gerade jetzt als strategisches Verhängnis sondergleichen. Es wurde gewählt, bevor eine konstitutionelle Zäsur zu ihrem Recht kam. Zwangsläufig war die danach erarbeitete Verfassung den Interessen derer unterworfen, die darin ein Vehikel des Machterhalts – weniger der revolutionären Erneuerung – sahen. Es ging nicht mehr darum, ob eine Regierung der Muslim-Brüder auf dem Boden der Verfassung stand, sondern ob eine Verfassung dieser Regierung den Boden bereitete, um sich zu behaupten. Präsident Mursi ließ beim Referendum Ende 2012 über eine Magna Charta abstimmen, deren islamische Prägung den Schluss nahelegte, dass ihr islamische Politiker am besten genügen würden – noch dazu, wenn die eine Mehrheit gewählt hatte. Damit war nicht nur ein Keil in die Gesellschaft, sondern die Revolution in ein Fahrwasser getrieben, das sie stranden ließ.Ihr vorerst letztes Aufgebot – die Tamarud-Bewegung – verrannte sich im Kampf gegen Mursi und legitimierte die Armee, ihn zu stürzen. Dem Anschein nach brachten die Streitkräfte am 3. Juli diesen Präsidenten zu Fall. Tatsächlich putschte eine militärische Autokratie gegen eine fragile Demokratie, die von den Tahrir- und Tamarud-Aktivisten nicht als revolutionäre Errungenschaft, sondern Instrument begriffen wurde, ihnen die Revolution zu nehmen. So liegt das Schicksal Ägyptens wieder in den Händen einer Machtpartei, die sich so verhält, als hätte es den 11. Februar 2011 nicht gegeben. Tröstet die Erinnerung, dass es mehr als 100 Jahre dauerte, bis sich die Werte der französischen Revolution europaweit durchsetzen konnten?