Auf Nummer sicher

Russland Die Präsidentenwahl wurde zur Volksabstimmung über einen Präsidenten, der seinem Land wieder zu internationler Statur und innerer Stabilität verholfen hat
Unangefochten
Unangefochten

Foto: Alexej Druzhinin/AFP/Getty Images

Mit unverhohlener Genugtuung wurde am 3. Juli 1996 im Westen quittiert, dass Boris Jelzin bei einer Stichwahl mit 54 Prozent als Präsident bestätigt wurde. Seinerzeit gab es mit etwa 67 Prozent eine Wahlbeteiligung, die sich mit dem aktuellen Votum wiederholt. Der Triumph Jelzins fiel damals überraschend deutlich aus. Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Urnengangs wurden laut. Schon zwei Tage vor dem Votum wurde der Einsatz von US-Wahlhelfern auf Seiten Jelzins von der Washington Post aufgedeckt, auch schienen Gelder aus dem Ausland geflossen und Wahlurnen manipuliert worden zu sein. Doch wen störte das? Was allein zählte, war der Umstand, dass sich Jelzin gegen Gennadi Sjuganow, den Bewerber der Kommunisten, durchgesetzt hatte. Mit Mutmaßungen über Unregelmäßigkeiten hielt sich – anders als jetzt – von den westlichen Wahlbeobachtern niemand groß auf.

Was allein zählte, sollte sich allerdings auf makabre Weise auszahlen. Zwei Jahre später verfiel Russland einer Banken- und Finanzkrise, die das ganze Land in einen Ausnahmezustand versetzte. Es rächte sich in diesem Augenblick der Rückgriff auf einen anarchischen, wildwüchsigen Kapitalismus, der Oligarchenmacht, spekulatives Kapital und eine verarmende wie verunsicherte Bevölkerung hervorgebracht hatte. Man erfuhr die Folgen ökonomischer Schocktherapien, wie es sie unmittelbar nach dem Verschwinden der Sowjetunion mit dem 500-Tage-Programm solcher Kapazitäten wie des damaligen Premiers Jegor Gaidar und seines Beraters Grigori Jawlinski gegeben hatte. In 500 Tagen zum Kapitalismus, der in England, Frankreich oder sonstwo Jahrhunderte gebraucht hatte, um sich zu zeigen und zu funktionieren. Dennoch fanden die "500-Tage-Reformer" außerhalb Russlands, etwa in Deutschland, viel Beifall.

Couragiert und entschlossen

Als Wladimir Putin Anfang 1999 zunächst Premierminister und ein paar Monate später Präsident wurde, galt die Rückkehr zu einem Minimum an innerer Stabilität als oberstes Gebot. Nur so konnten soziale Minimalstandards gesichert, der große Aufschrei der Entrechteten und Enteigneten verhindert werden.

Man sollte sich gelegentlich vor Augen halten, was ein aus den Fugen geratenes Riesenreich an Sicherheitsrisiken für Europa heraufbeschwören konnte. Schließlich hatte man es mit einer Nuklearmacht zu tun, die über gut 6.000 Atomsprengköpfe verfügte. Nur ein intakter Staat und eine disziplinierte Armee konnten einen Missbrauch verhindern. Putin hätte es verdient, für die erreichte Konsolidierung nach dem Kollaps weltweit gewürdigt zu werden. Er erwies sich immerhin als couragiert und entschlossen genug, einen Fall ins Bodenlose zu stoppen. Aber Dankbarkeit gilt weder als politische Tugend noch adäquates Verhalten, wenn es um Russland geht.

Geächtet und verstoßen

Weil aber die Erinnerung an die Jahre nach Jelzin in Russland nicht verblichen ist, unter anderem deshalb hat Putin am 18. März 2018 die vierte Wahl mit einem derart großen Abstand gewonnen. Man wird den Eindruck nicht los, als sei ein patriotischer Schutzpatron erwünscht, dem man sich anvertraut, weil sein Regierungsstil vertraut ist und inneren Zusammenhalt verspricht. Weil es die Einsicht gibt, dass eine Modernisierung der Wirtschaft alternativlos ist. Es sei denn, eine Großmacht legt Wert darauf, auf tönernen Füßen zu stehen wie die Sowjetunion in ihrem letzten Jahrzehnt.

Dass dieser Präsident mit einem Ergebnis von mehr als 70 Prozent in seine wohl letzte Amtszeit geht, hat sicher auch etwas mit dem Unbehagen vieler Russen zu tun, wenn inzwischen jeder sich bietende Anlass (s. Skripal-Affäre) dazu führt, Russland als „Reich des Bösen“ zu denunzieren und aus dem Kreis zurechnungsfähiger Nationen zu verstoßen.

Einst sagte Putin – es war Ende September 2001 – vor dem Deutschen Bundestag, dass die europäische Integration von Russland unterstützt werde, weil sich darin eine der Lehren spiegele, die man aus dem Kalten Krieg und „der verderblichen Okkupationsideologie“ gezogen habe. Daraus sprach die Hoffnung, sein Land sei Teil des Europäischen Hauses, das einst Michail Gorbatschow als erstrebenswertes Domizil vorschwebte und sich als Illusion erweisen sollte. Welche Lehren daraus gezogen wurden, das offenbart Russlands Wahl. War es ein Votum der Unbeirrbarkeit, dann wird der Riss zwischen dem Europa der EU und Russland Bestand haben. Putin kann Anklagen und Kampfansagen mit einem Mandat parieren, das über jeden Zweifel erhaben ist.

Wenn man so will, hat eine Volksabstimmung über seine Person und Politik stattgefunden, deren Ergebnis für den Kreml kaum etwas zu wünschen übriglässt.

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