Auf verlorenem Posten

Afghanistan Schon einmal versank das Land nach dem Abzug von Besatzungstruppen im Bürgerkrieg – doch diesmal wird es anders
Ausgabe 27/2021
1996: Kämpfer der Taliban feuern etwa 20 Kilometer von Kabul entfernt eine Rakete ab
1996: Kämpfer der Taliban feuern etwa 20 Kilometer von Kabul entfernt eine Rakete ab

Foto: Saeed Khan/AFP/Getty Images

Man hat den toten Körper des ehemaligen Präsidenten Mohammed Nadschibullah mit einem Stahlseil am Laternenmast hochgezogen. Daneben hängt die Leiche seines Bruders Shahpur Ahmadsai, der an gleicher Stelle exekutiert worden ist. Es sind zwei Lynchmorde, mit denen sich die Taliban am 27. September 1996 einführen, als sie Kabul erobern. Die grauenvolle Tat soll abschrecken, den zahlreich herbeiströmenden Schaulustigen wird die Botschaft zuteil: Feinde des Islam straft Verachtung, sie verdienen einen schmachvollen Tod. In den aufgerissenen Mund Nadschibullahs haben seine Henker dreckige Geldscheine gesteckt. Es kann nur käuflich sein, wer es gewagt hat, einen afghanischen Gottesstaat zu verhindern und sich dabei sowjetischer Hilfe zu bedienen.

Mit der Einnahme Kabuls durch die „(Koran-)Schüler“, wie sich Taliban übersetzen lässt, endet ein selbstzerstörerischer Bürgerkrieg, dem das Land in den frühen 1990er-Jahren verfällt. Er beginnt nicht sofort, nachdem am 14. Februar 1989 die letzten sowjetischen Militärs über den Fluss Amudarja nach Usbekistan abmarschiert sind und zehn Jahre der Besatzung enden. Zeitweise waren nach der Intervention Ende 1979 104.000 Soldaten am Hindukusch stationiert, um Afghanistan dem Zugriff der USA zu entziehen. Nach sowjetischer Lesart garantiert das eine Regierung der marxistischen Demokratischen Volkspartei, die freilich externen Beistand braucht, um sich gegen islamistische Widersacher zu behaupten.

Fragiler Burgfrieden ab 1992

Als dieser Rückhalt Anfang 1989 entfällt, rettet sich Staatschef Nadschibullah über die Zeit, indem er zur Volkspartei als politischer Heimat auf Abstand geht. Deren Führungsanspruch wird in einer geänderten Verfassung ebenso relativiert wie der Wille zu unbedingter Modernisierung einer in sich gekehrten, rückständigen Gesellschaft. Ohne Sowjetarmee lassen sich Angriffe von Mudjaheddin-Verbänden auf Kabul abwehren, solange die Loyalität der afghanischen Streitkräfte keinen Schaden nimmt. So wird Nadschibullahs Sturz erst dann unausweichlich sein, als im April 1992 der Usbeken-General Rashid Dostum mit seiner 53. Division aus der Nationalarmee ins Lager der Mudjaheddin-Führer Burhanuddin Rabani und Ahmed Massoud überläuft. Dostums Verrat wird zum Auslöser eines Machtkampfes zwischen mehreren Mudjaheddin-Parteien, überlagert von ethnischen Spannungen und religiösem Eifer. Als äußere Paten der inneren Fehde agieren Pakistan, Iran und Saudi-Arabien, doch sind auch die USA nicht unbeteiligt. Seit Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński für die Carter-Administration (1977 – 1981) die Devise ausgegeben hat, in Afghanistan müssten die Sowjets „ihr Vietnam“ erleben, sind Waffen für eine Milliarde Dollar an die Rebellen geschleust worden, darunter moderne Stinger-Luftabwehrraketen. Die CIA wird später mit dem Ansinnen scheitern, sie zurückzukaufen. Die Empfänger kennen keine Skrupel, damit auch den Spendern zuzusetzen.

Doch soweit ist es 1992 noch nicht, nach Nadschibullahs Fall gelingt es erst nach Monaten erbitterter Kämpfe Mitte 1993, einen Kompromiss zwischen dem Rabbani/Massoud-Lager und dem Fanatiker Gulbuddin Hekmatyar auszuhandeln, der mit seiner Partei Hezb-i-Islami einen radikalen Islam vertritt. Rabbani wird als Staatschef, Hekmatyar als Premier ausgerufen, doch der Burgfrieden ist zu fragil, als dass er machtversessenen Warlords mehr sein könnte als ein Innehalten vor dem nächsten Schlagabtausch. Für wen gerade das Pendel ausschlägt, ist taktischen Allianzen geschuldet. Kabul zerfällt um jene Zeit in drei Sektoren, die von rivalisierenden Kriegsparteien beherrscht und geplündert werden. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung versucht dem Horror durch Flucht zu entgehen – 50.000 Menschen retten sich in Moscheen der Umgebung, 300.000 in Camps des afghanischen Roten Halbmondes, 100.000 ziehen nach Norden oder bis nach Pakistan. Wer ausharrt, den kostet ein Laib Brot einen wertvollen Teppich. Zuletzt werden es die im Schatten dieser Schlacht um Einfluss und Pfründe abwartenden, in Pakistan formierten Taliban sein, die bis Kabul durchmarschieren und ihr Kalifat errichten, ohne je das ganze Land zu kontrollieren.

Die Frage, ob sich 2021 wiederholt, was nach 1989 ins Verderben führt, streift die Parallelwelt des Spekulativen. Ohne Schutzmacht steht Präsident Ashraf Ghani eher früher als später auf ähnlich verlorenem Posten wie einst Mohammed Nadschibullah. Diesmal jedoch greift mit den Taliban eine Formation nach der Macht, die sich keiner relevanten Konkurrenz anderer Rebellengruppen zu erwehren hat. Auch dürfte der Führung um Hibatullah Achundsada bewusst sein, welches ökonomische Risiko ein weiterer Bürgerkrieg für einen Staat heraufbeschwört, der über keinen eigenen Haushalt verfügt und von externer Alimentierung abhängt. Angesichts der als Wirtschaftsfaktor ausfallenden Besatzungsmacht gilt das umso mehr. Ein staatstragender Regime Change liegt nahe.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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