In der Chefetage des DDR-Fernsehens (DDR-F), die noch keinen personellen Aderlasse erfahren hat, wird am Nachmittag des 3. November entschieden: Wir übertragen morgen die Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Dazu aufgerufen haben Schauspieler des Deutschen Theaters und der Volksbühne wie Ulrich Mühe, Johanna Schall, Jutta Wachowiak, Käthe Reichel, Walfriede Schmitt und andere.
Sie wollen der aktuellen, seit 1974 geltenden DDR-Verfassung zum Durchbruch verhelfen – sprich: geschriebenes und geltendes Recht in Deckung bringen. Es geht ihnen um die Artikel 27 und 28, in denen versprochen steht: „Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern. Dieses Recht wird durch kein Dienst- oder Arbeitsverhältnis beschränkt. Niemand darf benachteiligt werden, wenn er von diesem Recht Gebrauch macht. Die Freiheit der Presse, des Rundfunks und des Fernsehens ist gewährleistet. (Art. 27). Während der folgende Paragraph mit dem Satz beginnt: „Alle Bürger haben das Recht, sich im Rahmen der Grundsätze und Ziele der Verfassung friedlich zu versammeln.“
Das Versprochene soll am nächsten Tag einen Praxitest bestehen. Frei nach dem Motto, wie es sich aus einem Lieblingszitat Erich Honeckers ergibt: Die Medienwende in ihrem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!
Schon zum 40. Jahrestag der Republik am 7. Oktober hatten Berliner Künstler eine Demonstration erwogen, sie aber angesichts der gespannten Atmosphäre wieder abgesagt. Inzwischen ist viel passiert. Allein die Rednerliste zeigt, dass sich für den 4. November einige künstlerische und intellektuelle Prominenz angesagt hat: Die Schriftsteller Christa Wolf, Christoph Hein, Stefan Heym und Heiner Müller, die Bürgerrechtler Marianne Birthler, Jens Reich und Friedrich Schorlemmer, die Schauspieler Steffi Spira, Jan Josef Liefers, Johanna und Ekkehard Schall, der Regisseur Joachim Tschirner, der Anwalt Gregor Gysi, der General a.d. Markus Wolf, der Medienwissenschaftler Lothar Bisky oder der Vorsitzende der Liberal-Demokratischen Partei, Manfred Gerlach. Auch an das SED-Politbüro ist eine Einladung verschickt und dort angenommen worden. Erwartet wird Günter Schabowski.
Mentor und Mediator
Auf einem Treffen des DDR-Schriftstellerverbandes hatte Stefan Heym im Dezember 1976 ein kurzes Statement abgegeben. Er sagte vor der Abstimmung über den Ausschluss von neun Autoren – Kurt Bartsch, Adolf Endler, Karl-Heinz Jakobs, Klaus Poche, Klaus Schlesinger, Rolf Schneider, Dieter Schubert, Joachim Seyppel und Heym selbst, denen eine Resolution gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns vorgeworfen wurde: „Aber ich gebe Ihnen zu bedenken, neben denen, die dann das Abzählen besorgen werden, sieht noch einer zu, wie Sie heute abstimmen – die Öffentlichkeit.“
Diese Öffentlichkeit ist nun ein Mentor des Wandels. Taub war sie nie, wie Heym richtig befand. Also fällt es ihr leicht, nicht sprachlos zu sein, als freie Rede in des Wortes doppelter Bedeutung gefragt ist. Es bewahrheitet sich, was Bertolt Brecht in seinem Gedicht „Lob der Dialektik“ schrieb: „So, wie es ist, bleibt es nicht. Wenn die Herrschenden gesprochen haben, werden die Beherrschten sprechen.“ Am 4. November soll das in Berlin passieren, damit Leipzig und Dresden nicht allein das große Wort überlassen bleibt.
Kirchen und Kantinen
Die Intendanz des DDR-F in Berlin-Adlershof wäre schlecht beraten, eine Berichterstattung zu verweigern und den Nachweis anzutreten, dass die Verfassung der DDR noch immer verletzt oder ignoriert wird. „Wir wollen die volle Souveränität des Volkes der DDR“, hat Egon Krenz als neuer SED-Generalsekretär gerade beteuert. Diese Souveränität artikuliert sich auf Straßen und Plätzen, in Kirchen und Kantinen, auf Zeitungsseiten und in Fernsehstudios. Die von Krenz am Tag seiner Wahl durch das SED-Zentralkomitee am 18. Oktober ausgerufene, im Lande mehrheitlich mit Skepsis und Argwohn quittierte „Wende“ wäre unglaubwürdig, gäbe es keine „Medienwende“.
Immerhin hat sich das vom DDR-F seit 1. September 1989 ausgestrahlte Jugendmagazin elf99 schon einmal die Freiheit genommen, eine zunächst aufgezeichnete Fernsehdebatte zwischen dem damaligen Bundesvorsitzenden des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) und jungen Arbeitern am 28. Oktober 1989 ungeschnitten zu senden. Tisch fand sich dabei heftig attackiert und zum Rücktritt aufgefordert. Zwei Tage später stellt er im FDGB-Bundesvorstand die Vertrauensfrage, verliert die Abstimmung, muss abdanken und auch dem SED-Politbüro fortan absagen.
Mit elf99 wird das Adlershofer Fernsehen zum Mediator und Katalysator der Demontage eines Funktionärs. Man kann die Wirkung eines solchen Vorgangs im Herbst '89 gar nicht überschätzen. Wie über Nacht müssen gesteuerte und steuerbare Medien entbehrt werden. Sie verweigerten der Führung Schutz und Gefolgschaft, sie wollen kein Herold der offiziellen Politik mehr sein. Es ist daher nur folgerichtig, durch eine mehrstündige Direktübertagung das ganze Land teilhaben zu lassen, was auf dem Berliner Alexanderplatz geschieht. Kein Zugeständnis, sondern die Konsequenz des Kräfteverhältnisses. Und ein Versuch, der Stimmung im Lande gerecht zu werden und so zu verhindern, dass die Situation vollends außer Kontrolle gerät. In der Mitte und im Süden der Republik – in Dresden und Leipzig, Plauen, Gera oder Zwickau, wird längst viel aggressiver – um nicht zu sagen: feindseliger – demonstriert.
Der Dirigent und Trompeter Ludwig Güttler verlangt in Dresden vor 10.000 Leuten, man sollte doch bitte in Wandlitz, wo um diese Zeit noch die SED-Politbüromitglieder wohnen, das Licht ausschalten. Die kollektive Erregung meint es mit der kritischen Vernunft nicht gut, das werden die Wochen nach der Maueröffnung vom 9. November noch viel ungeschminkter zeigen.
Regeneration per Reform
Dann wird sich die SED-Führung endgültig und endgültig hoffnungslose in eine Lage manövriert haben, die sie den Ereignissen hinterher laufen lässt. Am 3. November mag sich das für Krenz noch nicht so katastrophal darstellen. Auf dem Rückflug vom Antrittsbesuch bei Gorbatschow in Moskau greift er vor Journalisten mächtig in die programmatische Tastatur, geht nach der Landung in Berlin ins Studio, um in seiner zweiten Fernsehrede (es wird die letzte sein) ein Aktionsprogramm der SED anzukündigen, das die DDR auf ein „anderes Gleis“ zu setzen wünscht, ohne genau zu wissen, wohin die Reise dann geht. Es soll eine nichts aussparende Inventur des politischen Systems geben, einen Verfassungsgerichtshof, eine Verwaltungsreform, ein Vereinigungsgesetz, einen zivilen Wehrersatzdienst, mehr Geld und Personal für die Krankenhäuser, ein neues Reisegesetz, eine Wirtschafts- und Bildungsreform. Alles überfällig, aber bisher hinausgezögert, bestritten oder verhindert. „Und aus niemals wird: Heute noch!“ (Brecht) Und wenn diese „Heute“ seine Zeit längst hinter sich hat?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.