Ausstieg aus dem Teufelskreis

Ukraine Je länger im Osten gekämpft wird, desto verheerender sind die wirtschaftlichen Folgen für ein bankrottes Land. Das weiß auch Präsident Poroschenko
Ausgabe 35/2014
Präsident Petro Poroschenko will die Armee aufrüsten
Präsident Petro Poroschenko will die Armee aufrüsten

Bild: Sergi Supinsky / Getty

Es handelte sich um ein historisches Fossil, das der ukrainische Außenminister Pawlo Klimkin kurz vor dem Merkel-Besuch in Kiew bemühte. Er redete von einem Merkel-Plan, den es für sein Land geben müsse, und verwies auf das Muster des „Marshall-Plans“ von 1948, mit dem die USA seinerzeit den drei westlichen Besatzungszonen in Deutschland ein Hilfsprogramm gönnten. Auf welche Parallelität Klimkin konkret anspielte, blieb schleierhaft und verdient es, hinterfragt zu werden. Der Vorgang spiegelt exemplarisch eine Erwartungshaltung der ukrainischen Führung, die zum Ausdruck bringt: Gebt uns Hilfe, ohne Bedingungen zu stellen. Ihr tragt eine Mitverantwortung für die Lage, in die wir geraten sind.

Zur Erinnerung, der Marshallplan von einst war für besetzte Territorien gedacht, auf denen seit dem 8. Mai 1945 keine Kampfhandlungen mehr stattfanden, sodass eine von außen getragene ökonomische Sanierung sinnvoll erschien. Gilt das für die Ukraine, solange mit den Aufständischen im Osten keine belastbare Waffenruhe ausgehandelt ist? Eigentlich kaum.

Wenig Handlungsfreiheit

Wenn Pawlo Klimkin dennoch die EU und besonders Deutschland in die Pflicht nimmt, mag das im ersten Moment verstiegen wirken, ist aber vor allem ein Eingeständnis. Wer andeutet, einen Hilfsbedarf zu haben, der dem Deutschlands nach einem Zweiten Weltkrieg gleicht, den treiben relevante Gründe. Tatsächlich agiert Kiew militärisch und ökonomisch am Limit. Nimmt man die Bilanz des ersten Halbjahres 2014, so ist das Bruttoinlandsprodukt seit Januar um fünf Prozent gefallen, liegt das Leistungsbilanzdefizit bei zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung, brach allein der Handel mit Deutschland um 24 Prozent ein. Zugleich verdoppelten sich die Energiepreise, was industrielle Konsumenten belastet und private Verbraucher im Winter treffen wird. Da sich aus den Gruben im Donbass immer weniger fördern lässt, muss die Ukraine erstmals seit Jahrzehnten Kohle importieren. Dass zudem der versprochene Kulturwandel im nationalen Wirtschaftsleben – sprich: ein energisches Vorgehen gegen Korruption – ausblieb, beklagten Wirtschaftsminister Pawlo Scheremeta und Tetjana Schornowil, die Anti-Korruptionsbeauftragte von Präsident Petro Poroschenko, als sie vor Tagen zurücktraten.

Um das Bild abzurunden: Da eine Monatstranche von zwei Milliarden Dollar aus dem russischen 15-Milliarden-Kreditangebot zum Zeitpunkt des Janukowytsch-Sturzes Ende Februar eine der wenigen Finanzierungsquellen des ukrainischen Staates war, überrascht es kaum, was seither geschah. Es fließen Kredite aus IWF-Quellen, von denen im Mai eine erste Rate von 3,2 Milliarden Dollar den Haushalt bedient und Kreditreserven aufgestockt hat (vorgesehen bis Jahresende sind 17 Milliarden). Dazu kommen Kreditbürgschaften der USA für eine Milliarde Dollar und der EU für 1,5 Milliarden. Mit einem Wort – wäre die Kiewer Administration nicht derart subventioniert, könnte sie weder martialische Militärparaden veranstalten noch einen Krieg wie den im Osten führen. Der Kreis der externen Teilhaber dieses Konflikts ist so beachtlich wie hochkarätig. Er reicht von westlichen Finanzinstituten über die US-Regierung und die EU bis zur NATO. Was einmal mehr die geostrategische Aufladung einer Konfrontation anzeigt, wie sie Europa selbst in den letzten Jahren des Kalten Krieges nicht mehr erlebt hat.

Bereits im März 2011 warnte daher die von der Bundesregierung finanzierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in ihrer Studie „EU-Erweiterung. Vorschläge für dieaußenpolitische Flankierung einer Beitrittspause“ angesichts eines möglichen Assoziierungsvertrages EU-Ukraine: „Mit Ausnahme des geopolitisch unbedeutendenMoldova würde ein Beitritt eines der ÖP (Östliche Partnerschaft)-Staaten die Tektonik des postsowjetischen Raums gravierend verändern und massive Reaktionen Russlands zur Folge haben.“ Darauf wollte man es augenscheinlich ankommen lassen.

Insofern ist die Frage müßig, ob es für die internationalen Paten Poroschenkos nicht ein Leichtes wäre, die Militäroperationen in der Ostukraine zu beenden, indem sie der Kriegskasse Nachschub verweigern. Die Regierung in Kiew steht oder fällt mit diesem Feldzug im eigenen Land, für den ukrainischen Staat in seiner bisherigen Form trifft das ebenfalls zu – letzten Endes auch für die westliche Politik gegenüber der Ukraine und Russland. Diese drei konstituierenden Komponenten eines neuen West-Ost-Konflikts sind in solchem Maße miteinander verwoben, dass sie den Regierungen in Kiew, Paris, Berlin oder Washington so gut wie keine Entscheidungsfreiheit lassen. Anders ausgedrückt, Poroschenko muss gehalten werden, weil sonst eine strategische Niederlage der EU wie der USA in ihrer Auseinandersetzung mit Russland um die Dominanz im europäischen Teil des postsowjetischen Raumes droht. Folglich kann dieser Präsident externe Hilfen fordern, ohne Vorleistungen erbringen zu müssen, die über den Sinn der geleisteten Hilfe entscheiden. Umgekehrt kann Poroschenko keine separate Verständigung mit Russland suchen, weil dann die EU düpiert wäre und von ihm abrücken würde. Von den innenpolitischen Konsequenzen ganz zu schweigen.

Sicher kann die ukrainische Armee – seit Mai ist sie neu formiert und neben regulären durch viele Freiwilligen-Einheiten aufgestockt – im Osten nicht geschlagen werden. Was ihr Grenzen setzt und zwar erheblich, das sind nicht die Aufständischen, sondern die eigenen Opfer, die Not der Zivilbevölkerung und die Zerstörung einer Region, in der mit dem Bergbau und der Schwerindustrie das wirtschaftliche Herz des Landes schlägt. Es widerspricht jeder Logik, sich ökonomisch zu ruinieren und zugleich als Staat überleben zu wollen. Theoretisch bleibt für Kiew nur eine, zugegeben wenig reizvolle Option: Mit den Rebellen direkt verhandeln und nach einem politischen Ausweg suchen. Einem solchen Ansatz wollte der Kiew-Besuch von Kanzlerin Angela Merkel offenbar Vorschub leisten, auch wenn das nicht direkt gesagt wurde. Doch deutet die zugesagte, eher bescheidene Kreditbürgschaft von 500 Millionen Euro – ausdrücklich als Wiederaufbauhilfe deklariert, fällig erst nach Friedensschluss – darauf hin, dass Deutschland die rein militärische Lösung für ausgeschlossen hält. Nur kann Merkel Kiew aus den genannten Gründen nicht zwingen, dieser Auffassung zu folgen.

Alles auf den Tisch

Vom Treffen zwischen den Staatschefs Putin und Poroschenko zu Wochenbeginn in Minsk war unter diesen Umständen kein Durchbruch zu erwarten. Wenigstens wurden vor der Begegnung einige verschüttete diplomatische Kanäle wieder zugänglich. So sahen sich Mitte August in der Schwarzmeerstadt Sotschi die Chefs der russischen und ukrainischen Präsidialverwaltungen. Ein Treffen, an dem auf russischer Seite auch Sergei Iwanow teilnahm, einer der Putin-Vertrauten im Kreml. Dem Vernehmen nach hat dieser Kontakt wiederum geholfen, den Weg zu ebnen für das Fünf-Stunden-Gespräch der Außenminister Sergej Lawrow und Pawlo Klimkin am 17. August in Berlin, bei dem der französische und deutsche Amtskollege sekundierten. Danach wusste man, dass Lawrow den Fortgang solcher Gespräche nur für sinnvoll hält, wenn sie in eine Waffenruhe münden. Womit er ebenso recht hat wie mit der Mahnung an Kiew, bei einer Westbindung Illusionen zu vermeiden. Schließlich war die Ukraine, nachdem sich die Sowjetunion Ende 1991 aufgelöst hatte, stets eingewoben in einen starken Handel mit Russland. Von den Exportsortimenten her kann das kein Warenaustausch mit der EU ersetzen. Wenn das Land wirtschaftlich überleben will, muss es mit Russland als Partner auskommen. Es kann kein Entweder-Oder geben, Freihandel mit der EU wird ebenso gebraucht wie Freihandel mit der Eurasischen Union.

Eine Generalinventur der ukrainisch-russischen Beziehungen scheint unabdingbar Sie muss dem künftigen Verhältnis der Ukraine zur NATO gelten, der Krim-Frage und den Rechten der russischen Minderheit, den Schulden des Landes gegenüber Moskau, nicht nur beim Erdgas-Bezug, sondern bei allen gewährten Krediten, dem russischen Gastransit über ukrainisches Territorium Richtung Westeuropa und einer ökonomischen Rekonvaleszenz, die auf russischen Beistand angewiesen ist. Dies alles läge auch ohne Krieg auf dem Tisch, nur ist davon kaum etwas zu verhandeln oder gar lösbar, solange die Waffen sprechen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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