Bedauernswertes Israel

Am Scheideweg Der Regierung Netanjahu gingen mit dem Arabischen Frühling Partner in der Region verloren. Bisher fehlt es ihr am Willen zur Realpolitik, um sich darauf einzustellen

Es war immer Teil der israelischen Staatsräson, sich notfalls mit vielen Gegnern auf einmal anzulegen – und sie alle in Schach zu halten. Der Sechs-Tage-Krieg von 1967 wurde als Mehrfronten-Krieg – gegen Ägypten im Sinai, gegen Jordanien in der Westbank, gegen Syrien im Golan – gewonnen. Vom Prinzip her galt das Gleiche für den Jom-Kippur-Krieg vom Oktober 1973, auch wenn da bereits das Westjordanland nicht mehr als Schlachtfeld in Betracht kam. Israel war militärisch überlegen und konnte sich im Notfall des Schutzes der USA sicher sein. Egal, wer das Land politisch führte – weder Moshe Dayan noch Yitzhak Rabin, weder Golda Meir oder Ariel Sharon mussten sich vorwerfen lassen, das Existenzrecht Israels zu verteidigen, indem sie dessen Existenz aufs Spiel setzten. Sie verließen sich auf die Schwäche der arabischen Nachbarschaft, auf eigene Stärke und den Rückhalt des Westens. Und sie konnten sich darauf verlassen.

Was ändert sich an diesen Gewissheiten, wenn in Staaten wie Ägypten seit Monaten Volkssouveränität und Machtanspruch etablierter Eliten aufeinander treffen und sich zuweilen in offener Konfrontation gegenüber stehen? Aus Sicht des israelischen Premiers offenbar nichts. Benjamin Netanjahu definiert israelische Interessen so kompromisslos wie eh und je. Doch hätte es unter einem Präsidenten Mubarak keinen Sturm auf die israelische Botschaft in Kairo gegeben. Der regierende Militärrat hat sie dagegen nicht verhindert, obwohl der Gebäudekomplex seit Tagen belagert war. Auch wäre Mubaraks Grenzpolizei weiter hilfreich gewesen, den Gazastreifen abzuriegeln. Der Militärrat hingegen steht in den Augen vieler Ägypter viel zu sehr im Geruch der Restauration, als dass die bisherige Kooperation mit Israel fortsetzbar wäre. Seit sich Fatah und Hamas auf eine gemeinsame Übergangsregierung geeinigt haben, kommt eine ägyptische Beihilfe zur Gaza-Blockade der Sabotage eines Palästinenser-Staates gleich. Nichts stellt den Arabischen Frühling in Ägypten mehr auf den Kopf als solche Kausalität.

Es überrascht daher, mit welcher Sturheit eine Regierung in Jerusalem darauf beharrt, das Existenzrecht Israels verteidigen zu können, ohne dessen veränderte Existenzbedingungen annehmen zu müssen. Netanjahus Veto gegen die Grenzen von 1967 für einen Palästinenser-Staat, gegen eine palästinensische Hauptstadt Ost-Jerusalem, gegen die Aufgabe großer Siedlungen in der Westbank, gegen Rückkehr-Rechte für palästinensische Flüchtlinge wirkt nicht nur anachronistisch – es schadet auch den Interessen seines Landes. Gewiss sammeln sich in der arabischen Nachbarschaft heute keine furchteinflößenden Armeen, um Israel zu überrennen. Aber es wächst die Entschlossenheit der Straße, gegen eine Regionalordnung anzugehen, die auf Besatzung und Rechtsbruch beruht. Wer heute in Tunis, Kairo, Amman oder Damaskus regiert, ist zu schwach, um diesen Volkswillen ignorieren zu können. Und wer in Jerusalem regiert, täte gut daran, ihn nicht ignorieren zu wollen.

Ist schon vergessen, dass es am 15. Mai, als der Tag der Katastrophe (Nakba) begangen wurde, um an die Vertreibung Hunderttausender Palästinenser 1947/48 zu erinnern, zu einem Massenangriff auf israelische Demarkationslinien im besetzten Golan kam? Wird übersehen, wie die Front der Schutz- und Garantiemächte Israels bröckelt? Warum treibt die türkische Regierung den Streit um das Entern der Gaza-Flotte Ende Mai 2010 bis zum bilateralen Zerwürfnis? Doch nicht um den israelischen Botschafter ausweisen zu können – es geht ihr um die Botschaft dieses hoch gespielten Konflikts. Die lautet: Die von der islamischen AKP geführte Regierung in Ankara empfiehlt sich als strategischer Partner einer veränderten arabisch-muslimischen Welt. Eine Regionalmacht signalisiert, wo sie stehen könnte, falls aus Israels Nachbarstaaten wieder Frontstaaten werden.

Wäre ein dann drohender Mehrfronten-Krieg genauso verkraftbar wie 1967 und 1973? Netanjahu sollte es nicht darauf ankommen lsssen und alles tun, was ihm an Realpolitik möglich ist, damit auf den Arabischen Frühling kein kriegerischer Winter folgt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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