In Staffel III seiner Hunsrück-Saga „Heimat“ kommt Edgar Reitz künstlerisch aus dem Tritt
Zeitgeschichte Zonen-Gunnar: Als die letzten Folgen des „Heimat“-Epos von Edgar Reitz abgedreht werden, gerät das Bild des Ostens arg holzschnittartig. Um dem Titel „Zeitenwende“ zu genügen, geistert ein stereotyper Ost-West-Plot durch das Werk
Viele tragen ihn mit sich herum, Generationen schleppen ihn durchs Leben. Man versucht trotzdem, aufrecht zu gehen. Weder weite Kleider noch feine Anzüge lassen ihn verdecken. Er ist immer da, der „Hunsbuckel“. Denen aufgebürdet, die im Hunsrück zur Welt kommen, dort ausharren oder der Gegend auf Lebenszeit zu entkommen suchen. 1932 im Hunsrück-Ort Morbach geboren, hat der Autor und Regisseur Edgar Reitz den „Hunsbuckel“ mutmaßlich nie als Last, sondern Passion empfunden. Sein filmisches Hauptwerk, die Jahrhundert-Trilogie Heimat, wäre sonst kaum denkbar. Nach 52 Stunden der retrospektiven Bilanz in den Staffeln I und II riskiert die III. und letzte mehr Tuchfühlung zur Gegenwart, was künstlerische Risiken birgt.
Zunächst
Zunächst einmal braucht Reitz zehn Jahre, um genügend Co-Produzenten einzusammeln und seine Hunsrück-Saga 2002 endlich fortschreiben zu können. Er muss schlucken, dass ihm die beteiligten Fernsehsender nur sechs Folgen von jeweils 90 Minuten Länge zugestehen, denen der emblematische Titel Chronik einer Zeitenwende verliehen wird. Bezogen auf den Epochenbruch von 89/90 ein nachvollziehbarer Anspruch, zugleich eine programmatische Ambition, die nicht ganz einleuchtet. Als Reitz 1984 den ersten Zyklus aus dem Hunsrück-Dorf Schabbach vorlegt, gebricht es dem Plot nicht an „Zeitenwenden“. Allen voran sind es zwei Weltkriege, die Lebensbäume an den Wurzeln packen und ausreißen. Das Epos über die Familie Simon umfasst den Zeitraum von 1919 bis 1982 und wird in elf Folgen erzählt. Reitz nennt das Ganze: Eine deutsche Chronik. Es wird deutsche Geschichte durchkämmt. Die zweite Staffel, gedreht von 1988 bis 1991, trägt den Titel Chronik einer Jugend und ist damit trefflich bedient. In 13 Folgen fließen die Münchner Jahre des Musikstudenten und angehenden Komponisten Hermann Simon gemächlich am Zuschauer vorbei. Beginnend im Herbst 1960, schaut man zu, wie die „Kinder Kennedys“ aus dem Schatten ihrer Illusionen treten oder taumeln, weil gestoßen werden. Nun also die Chronik einer Zeitenwende, gewidmet den biografischen Ausläufern des Bebens von 89/90, aber auf sechs Folgen beschränkt. Als würde dem Chronisten Reitz bedeutet, jetzt spiel’ halt noch mal auf, suche das Epochale im Episodischen, doch tue es in Maßen. Denk an die weltanschauliche Ölung des Publikums. Was von dieser „Zeitenwende“ zu halten ist, wissen wir bereits.So geschieht, was den rührenden, tragischen, absurden und amüsanten Heimat-Geschichten aus dem Hunsrück bis dato nie widerfahren ist. Sie geraten ins Mahlwerk einer Dramaturgie der konstruierten Zwangsläufigkeiten. Es geht los mit der Nacht der Nächte. Als am Abend des 9. November 1989 in Berlin die Mauer fällt, treffen sie sich wieder – die Sängerin Clarissa Lichtblau und der renommierte Dirigent Hermann Simon. Zur Studentenzeit in München ein Liebespaar, dem es verwehrt blieb, ein Paar zu sein. Jetzt aber, da die füreinander Bestimmten im Weihrauch des hehren Moments unumkehrbar zueinanderfinden, fällt sogleich der Entschluss, ein nomadisierendes Künstlertum aufzugeben. In der Mitte des Lebens soll die Mitte eines gemeinsamen Lebens gefunden werden. Dazu auserkoren ist ein Fachwerkhaus aus dem 19. Jahrhundert – gelegen hoch über dem Rhein, war es einst das Domizil der Dichterin Karoline von Günderrode. Was erste optische Sequenzen am Schauplatz befürchten lassen, erfüllt sich bis zum Überdruss. Die Magie des Ortes wird zur Manie der Optik, wenn der schwindelerregende Blick in die Tiefe den Strom unablässig schillern und glänzen lässt.Mit dem Haus kommt eine Fabel der Kunstgriffe erst richtig in Fahrt. Der Topos wird zum Vehikel, um in die „wahre Heimat“ zurückzukehren, in den Hunsrück, den Ort Schabbach, zur Familie Simon, zur Hunsrück-Höhenstraße, zu Lehmklumpen an Schuh und Hirn. All dem wollte Hermann Simon als 19-jähriger Gymnasiast entkommen. In die Flucht getrieben, lag ihm der Schwur auf den Lippen: Mich führt kein Weg zurück! Nun aber schenkt die „Zeitenwende“ der Seele Frieden und einem Eid gnädiges Vergessen. Und schon ist Hermann als Arbeitgeber gefragt. Vier Handwerker aus Leipzig und Dresden tauchen auf, um aus der Günderrode-Ruine ein Clarissa-Hermann-Refugium zu zaubern. Was sie mitbringen, sind ihr Können und die Lust zur Improvisation, wie sie im Osten gefragt sind. Anstatt es damit bewenden zu lassen, halten sich Reitz und Co-Autor Thomas Brussig ans Klischee. Gunnar, Tobi, Udo und Tillmann werden als rechtschaffene Gesellen mit goldenen Händen verkitscht und durch den denunziatorischen Sound ihrer sächsischen Mundart auf den schmalen Grat zur Karikatur geschickt. Die Ostler übermannt devote Dankbarkeit, wenn Bauherr Simon die weißen Briefe mit dem Honorar in Westmark – „und einer Prämie obendrauf“ – verteilt. Sie erfasst infantiles Pathos, gerät im Baumarkt die schier endlose Reihe der Bohrmaschinen ins Visier der Kamera.Besonders Gunnar (Darsteller: Uwe Steimle) erinnert als unverbesserlicher Biedermann an „Zonen-Gabi“, das Titanic-Covergirl von Ende 1989. Gabi war es vorbehalten, in Stonewashed-Kluft und mit dummstolzem Blick eine Gurke als ihre „erste Banane“ zu schälen. Vorübergehend verfällt Heimat III der Lesart, die DDR als folkloristisch derben Kulturschock zu begreifen, den man im Westen nur erträgt, indem man ihn übertreibt. Soll sich, ja, kann sich beleidigte Bürgerlichkeit denn anders wehren, als im Proleten von drüben den Domestiken zu sehen? Konterkariert wird das bis dahin eiserne Prinzip der Heimat-Filme, Zeitgeschichte nicht aufgesetzt, sondern beiläufig in das Dasein der Familie Simon sickern zu lassen. So kehrt Paul Simon 1919 aus dem Ersten Weltkrieg zurück, ohne seinen Vater, den Dorfschmied Mathias, überschwänglich zu begrüßen. Er greift sogleich zum Schmiedehammer, um ein glühendes Hufeisen in Form zu bringen. Den nächsten Weltkrieg sagt Mutter Katharina mit ihrem Instinkt für Realitäten urteilssicher voraus. Als in Schabbach Mitte der 1930er Jahre der Wohlstand einkehrt und gleich drei Autos auf dem Hof der Simons stehen, wird sie nicht müde am Satz: „Alles auf Pump, ich hab das Gefühl, die ganze Welt lebt nur vom Pump. Eines Tages, da müssen wird das alles bezahlen.“ Eine Sequenz, die erklärt, weshalb man Reitz’ Filmfiguren häufig mit Romangestalten verglichen hat. Bei Heimat III jedoch werden weder Hunsrück-Heimkehrer Hermann noch die Ost-Migranten um Gunnar diesem Anspruch gerecht.Zur gewohnt unbestechlichen Authentizität findet die Handlung erst zurück, als zu erfahren ist, dass der Osten im Westen angenommen wird, weil er ausgenommen werden kann. Hermann Simons Halbbruder Ernst kommt dafür auf. Erst Jagdflieger unter Hermann Göring, dann für Jahrzehnte als Unternehmer ein skrupelloser Freibeuter, der den halben Hunsrück verschachert. Ernst handelt mit geschnitzten Türen, Griffen und Balken, Hausrat und Werkzeug, kurzum, mit Kulturgut, in dem das Alltagsleben der Altvorderen geronnen ist. Billig aufgekauft, wird es einer betuchten Kundschaft verkauft, die sich ohne Ikea-Inventar auszustatten wünscht. Nach 1990 kann Ernst anderswo zu- und abgreifen. Er fliegt ins Baltikum, um nach verschollenen Gemälden von Expressionisten Ausschau zu halten. Seine Devise, „gerade jetzt sind die Kirschen reif. Wie 1945, da lagen die unbezahlbarsten Schätze im Dreck, für’n Stück Butter hast du einen Picasso gekriegt“.Reitz befindet sich wieder im Einvernehmen mit dem Hunsrück und einem Menschenschlag, der ihm vertraut ist. Mitleidlos werden Niedergang und Zerfall der Familie Simon seziert. Von Neid und Streit ums Erbe zerrissen, offenbart sich keine konstruierte, sondern nachvollziehbare Zwangsläufigkeit, die keiner „Zeitenwende“ bedarf. Schabbach emanzipiert sich vom Simon-Clan und Edgar Reitz vom Jahr 1990. Er kann sich der Tugend überlassen, entdeckungsfreudig am „Hunsbuckel“ zu tragen, solange es eben sein muss.
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