Erst wird „der Westen“ jahrzehntelang durch die USA geführt, nicht immer zu seinem Vorteil, aber auf eigenen Wunsch. Als Donald Trump dieses Geschirr abstreift, lautet die Devise: Der Westen sind jetzt wir, die Kernmächte Europas, allen voran Deutschland mit seinem Sinn für missionierende Geltungsmacht. Und nun, unter Joe Biden? Die USA sind wieder zum Führen entschlossen, nicht allein durch Macht, sondern „die Kraft ihres Beispiels“ (Biden), worin das auch immer bestehen mag. Sie sammeln ein, was nicht in alle Winde verstreut ist, sondern wie Außenminister Maas – ausgesetzt auf den Stufen eines strategischen Waisenhauses – geduldig darauf wartet, wieder geführt zu werden. Warum Trumps transatlantische Entwöhnungskur als Chance begreifen? Hatte sie es nicht verdient, als Zumutung beklagt zu werden?
Noch keine Machtoption
Weiter über eine strategische Autonomie der EU nachzudenken, wie das Emmanuel Macron zuletzt tat, hat seit dem Antritt von Biden nichts an Logik und Brisanz eingebüßt, aber jetzt umso mehr das Zeug zum Affront. Schließlich werden die alten Verbündeten von der neuen US-Administration verbal hofiert. Wenn sie wollte, hätte die Regierung Merkel allen Grund, die USA zur europäischen Macht ehrenhalber zu ernennen. Lässt sich doch dank der transatlantischen Konfession des neuen Präsidenten und seines Außenministers Blinken das westliche Bündnis wieder als Bastion begreifen. Im soeben in Umlauf gebrachten Essay Transatlantisch? Traut Euch!, verfasst von deutschen „Fachleuten für Amerika-Politik“ (das Wort „US-Lobbyisten“ träfe es besser), wird gar suggeriert, dass die USA „die eigene Weltmachtrolle“ nur erhalten können, wenn sie „mit einem stabilen, demokratischen, prosperierenden und gemeinsam handlungsfähigen Europa“ beglückt werden. „Europäische Idee und atlantische Orientierung gehören deshalb zusammen“, so die Autoren, zu denen auch grüne Funktionsträger zählen.
Lagerdenken und Blockmentalität allein sind freilich weder Erfolgsrezept noch realistische Machtoption, derzeit jedenfalls nicht. Der Einbruch in die Reservate einer globalen Wirkmächtigkeit der USA mag nicht unwiderruflich sein, aber er hat unwiderruflich stattgefunden. Und das nicht erst in der Regierungszeit von Donald Trump, der eine multipolare Welt unverhohlen provozierte, ohne ihr mit der unilateralen Anmaßung eines George W. Bush zu begegnen. Seine „America First“-Obsession war exzessiver Nationalismus, aber frei von globalem Übermut. Wer nüchtern urteilt, wird einräumen müssen, dass Trump mit seinem Isolationismus dem westlichen Lager eine Atempause gönnte. Man konnte sich Gewissheit verschaffen: Soll es in Europa beim eingeschlagenen Weg bleiben, nach der Osterweiterung der NATO eine Osterweiterung des Westens voranzutreiben, die nach der Ukraine auf Belarus und Russland zielt? Dies betraf die keinesfalls beiläufige Frage, ob sich Status und Sicherheit West- und Mittelosteuropas am besten gewährleisten lassen, wenn der offensive Export des eigenen Modells – von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft – die neue „Ostpolitik“ sein soll. Im Fall Ukraine überzeugt das Konzept bisher nicht.
Inzwischen muss eine Antwort berücksichtigen, was unerwartet eintrat. Die westliche Gemeinschaft auf beiden Seiten des Atlantiks rekrutiert sich momentan aus durch eine Pandemie mental und ökonomisch angeschlagenen Gesellschaften. Kaum anzunehmen, dass sich demnächst international mehr Standing aufbauen lässt als in den Trump-Jahren der Zwietracht und der Zerwürfnisse. Was folgt daraus? Vermutlich der Wille, aber auch Zwang zur konzertierten Aktion. Die USA wie Europa werden Zuflucht bei einer moral- und wertegestützten Außenpolitik suchen, um Gegner wie China, Russland, Iran, Venezuela, Kuba, Syrien, Nordkorea und andere durch permanente Delegitimation und Infiltration unter Druck zu setzen. Ergänzen ließe sich eine solche Agenda durch ein extensives Sanktionsregime wie die Option zum interventionistischen Zugriff auf Weltgegenden, in denen Militärpräsenz politischen Einfluss verspricht und zum Nachweis von Aktionsvermögen taugt. Und das, ohne übermäßig riskant zu sein. Die Sahelzone, Libyen, das Horn von Afrika, die Westsahara, der Irak und – bis auf weiteres – Afghanistan bieten sich an. Eine Geopolitik der begrenzten Möglichkeiten, die in einer Welt der labilen Balancen zugleich Ordnungspolitik sein will. Auch wenn dazu, wie noch in den 1990er Jahren oder nach 9/11, Macht und Mandat fehlen.
Für den Antrieb, sich trotzdem als westlicher Block zu inszenieren und dadurch zu behaupten, sorgt ein Wettbewerb der Systeme, der an Schärfe gewinnt. Liberale und autoritäre Staats- wie davon geprägte Wirtschaftsordnungen konkurrieren um den Nachweis, ihren jeweiligen Gesellschaften am besten gerecht zu werden.
Ob allerdings ein sich an die USA klammernder Westen für diese Art von Bipolarität optimal gerüstet ist, wäre zu bezweifeln. Eine seit Ausbruch der Pandemie offenbarte Verwundbarkeit dürfte andauern, sich womöglich potenzieren, wenn es darum geht, die sozialen und psychologischen Kollateralschäden einer Naturkatastrophe einzudämmen, die zu spät als solche erkannt wurde. Ganz abgesehen davon, dass bei allem transatlantischen Retroflair der Interessenabgleich kein Ausgleich sein muss. Im Welthandel schon gar nicht, den die EU um ihrer Prosperität willen sanktions- und störungsfrei braucht. Im Umgang mit China wäre es ein Prestigeverlust ohnegleichen, sollte das Ende 2020 noch unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft ausgehandelte Investitionsabkommen einem konfrontativen China-Kurs der USA geopfert werden. Als Präsident Xi Jinping am 30. Dezember bei der finalen Videokonferenz der Vertragsparteien auftauchte, war mit seiner Autorität abgesegnet, dass es künftig ein ausgewogenes Investitionsverhältnis zwischen der EU und China geben soll. Die Volksrepublik erklärte sich zudem bereit, die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO bei Wander- und Zwangsarbeit zu respektieren. Von diesem Agreement wieder abzurücken, wäre ein Schlag ins Kontor für die gegenüber China bemühte europäische Menschenrechtssemantik und käme ökonomischer Selbstentleibung gleich.
Alternative Prinzipien
Nicht übersehen werde sollte das von Sicherheitsfragen geleitete Interesse Europas am Nuklearvertrag mit dem Iran, aus dem Donald Trump im Mai 2018 so effektvoll ausgestiegen ist. Die inneren Gleichgewichtsstörungen der US-Gesellschaft wirken viel zu sehr in die Außenpolitik hinein, als dass die Biden-Regierung es sich leisten könnte, in den Atomdeal auf so beiläufige Art wieder einzusteigen wie in das Pariser Klimaabkommen. Verhandlungen mit Teheran sind suspekt. Der Verzicht auf den seit fast drei Jahren gegen die Islamische Republik geführten Wirtschaftskrieg wäre die obligatorische Vorleistung. Wozu sich Biden nicht durchringen wird. Umso mehr hätte die EU eine selbstbewusste Iran-Politik nötig. Wie sonst ließe sich den USA Paroli bieten und Militärschlägen vorbeugen, mit denen man es im Vorhof des eigenen Kontinents zu tun bekäme? Leider fehlen das Vermögen wie das interne Einvernehmen, sich diese Souveränität zu gestatten.
Stattdessen grassiert der Zeitgeist und imprägniert Vorstellungen, der NATO als westlicher Allianz wieder mehr Reputation und Perspektive zu gönnen. Man will sie als Militärpakt und politisches Forum verstanden wissen, wie das in den Papieren der Reflexionsgruppe zur „NATO 2030“ anklingt. Nur ist kaum damit zu rechnen, dass sich durch Strategiedebatten die von Trump und Macron aufgeworfenen Sinnfragen überspielen lassen. Generalsekretär Stoltenberg versucht es trotzdem und hält eine China-Programmatik – um den USA zu sekundieren? – für dringend geboten.
Was bleibt von Donald Trump? Seine Nordkorea-Diplomatie, die ihn 2019 bis zum Treffen mit Kim Jong-un am 38. Breitengrad führte, der Demarkationslinie zwischen Nord- und Südkorea, ist als Staatstheater der spektakulären Bilder und spärlichen Erträge belächelt worden. Doch muss man dem Ex-Präsidenten zugutehalten, ein in aggressiver Feindschaft erstarrtes Verhältnis entkrampft zu haben. Trump ließ einfach ideologische Vorbehalte und Dogmen fallen. Wird Joe Biden an einem ähnlichen Realismus der alternativen Prinzipien Gefallen finden? Wohl kaum. Vielmehr ist ein erheblicher propagandistischer Geleitschutz wahrscheinlich, wenn sich „der Westen“ wieder als solcher zu erkennen gibt und ein Bollwerk sein will, an dem gefälligst abzuprallen hat, wer nicht dazugehört. Ob das vielleicht eines Tages mit globaler Randständigkeit geahndet wird? Gut möglich.
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