Die Chance auf Versöhnung, auf Ausgleich und Befriedung sinkt. Das gilt für Tunesien, nachdem der linke Oppositionspolitiker Mohammed Brahmi ermordet wurde, ebenso wie in Ägypten, seit dort Demonstrationen der Muslim-Brüder gezielt zusammengeschossen werden – sei es von der Armee, der Polizei oder anderen bewaffneten Gruppen, die offenbar genau verstanden hatten, was General Abd al-Fattah al-Sisi meinte, als er das Mandat der Straße für eine "harte Hand" gegen den „inneren Terror“ verlangte. Der General wollte einen Blankoscheck, den inneren Ausnahmezustand instrumentalisieren zu dürfen, um sich Hegemonie legitimieren zu lassen. Man gießt Ol ins Feuer, lässt es lodern, um es zu löschen – aber nicht gleich, besser erst dann, wenn ein politischer Gegner wie die Muslim-Brüder schwer zu Schaden kam. Es handelt sich um eine bedauernswerte liberale, säkulare und demokratische Opposition, die solcherart Ermächtigung noch Beifall spendet und so tun muss (oder will), als sei General Al-Sisi ihr bester Mann.
Belaid und Brahmi
In Tunesien erscheint die Lage kaum weniger explosiv als in Ägypten, denn die Fronten sind ähnlich. Um nicht zu sagen gleich. Es gibt freilich einen entscheidenden Unterschied – in Tunis sind die teils ultrakonservativen religiösen Kräfte der Nahda-Bewegung, der Partei des Wiedererwachens, noch an der Regierung. Sie können sich die ägyptische Lektion zu Herzen nehmen. Und die lautet möglicherweise: Wer uns stürzt, der will uns auch in die Illegalität, in einen selbstmörderischen Überlebenskampf und den Untergang treiben. Deshalb gilt es, alle Gegner durch Tatkraft abzuwehren. Auch durch mörderische Entschlossenheit, wie der Mord an Mohammed Brahmi, den Führer der nicht-religiösen Volksbewegungspartei (MP), vor wenigen Tagen gezeigt hat?
Die tunesische Regierung hatte nach dem tödlichen Attentat auf den linken Oppositionspolitiker Chokri Belaid im Februar versprochen, spätestens im Juni werde es Wahlen geben. Dann aber verzögerte die Ennahda-Partei ein solches Votum ebenso wie die Verabschiedung einer neuen Verfassung. War sie sich dessen bewusst, welch heftigen säkularen Widerstand es gegen eine religiös geprägte Magna Charta geben würde? Aber was hilft ein Aufschub?
In Tunis wie in Kairo werden derzeit Konflikte eher zugespitzt als eingedämmt. Es wird von Versöhnung geredet, aber Kapitulation ist gemeint. Es fehlt ein über den Konfliktparteien stehender Mediator, der soviel Charisma, Macht und Selbstlosigkeit besitzt, einen Weg aus der Sackgasse zu finden und einzuschlagen, in den Staat und Gesellschaften hier wie dort geraten sind.
So weit wie noch nie
Soviel dürfte inzwischen feststehen, es gibt kein Erfolgsmodell für die Länder der Arabellion. In Ägypten haben die bisher an die Macht gespülten Akteure ausnahmslos versagt. Ob es sich um den Militärrat handelte, der Hosni Mubarak beerbte und sich 16 Monate lang hielt, obwohl diese Gremium nur mit Gefolgsleuten des Ex-Präsidenten besetzt war, oder die Muslim-Brüder, die es nach den Wahlen vom Juni 2012 nicht schafften, das Land zu stabilisieren. Sie dürften damit in den Augen der traditionellen Eliten versagt haben, die es für klüger hielten, zunächst den Rückzug anzutreten und im Hintergrund zu bleiben. Es fiel auf, wie widerstandslos – um nicht zu sagen ergeben –, sich Marschall Tantawi als Chef des Militärrates durch den Präsidenten Mohammed Mursi ablösen und in den Ruhestand schicken ließ.
Die Muslim-Bruderschaft schien seit Mitte 2012 so etwas wie eine Machtreserve zu sein, weil Autokraten wie die Generäle um Hussein Tantawi nicht nur diskreditiert, sondern gegen die wirtschaftliche Misere nichts auszurichten vermochten. Mursi und seine Regierung blieben dann jedoch nicht nur den Nachweis schuldig, in dieser Hinsicht geschickter zu agieren und die grassierende Armut wenigstens einzuhegen – sie spalteten durch ihre überzogenen religiösen Ambitionen die Gesellschaft in einem Maße, dass der revolutionäre Furor aus den Wochen des Aufruhrs gegen Mubarak Anfang 2011 wieder aufzuleben begann – mit möglicherweise unabsehbaren Konsequenzen.
So hat General al-Sisi die Gunst der Stunde genutzt, um die Versager zu stürzen und dem Volkswillen Genüge zu tun, so dass er jetzt vor der vorübergehenden Errichtung einer Militärdiktatur steht. Dazu haben ihn die Mursi-Gegner schließlich aufgefordert. Was sollte die „harte Hand“ anderes sein als das Werkzeug eines Obristen? Soweit war Ägypten seit dem Kollaps des Systems Mubarak im Februar 2011 noch nie von (annähernd) demokratischen Verhältnisse entfernt.
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