Dieser Tag wird enden und die Schöpfung ist so wenig bedroht wie das Glockengeläut im Erfurter Dom. Schon 2002, als in Berlin ein rot-roter Senat antrat und der Wirtschaftssenator Gregor Gysi zum Internationalen Frauentag Prostituierte in einem Bordell besucht hat, weil er in ihnen einen legitimen Teil der Berliner Wirtschaft sah, wurde das KdW nicht als Zeichen des moralischen Abscheus geschlossen. Und was zudem ins Gewicht fiel, Rot-Rot hat in zwei Legislaturperioden Berlin nicht in Grund und Boden gewirtschaftet, sondern aus dem Schuldenturm geholt – und das um den Preis einer zeitweilig halbierten Wählerschaft der damaligen PDS.
So führt die Nachricht des Tages, dass in Erfurt Bodo Ramelow im zweiten Wahlgang zum ersten Ministerpräsidenten der Linkspartei gewählt wurde, zu der Frage: Wird er auch ein linker Regierungschef sein können? Eine kaum mehr zu übertreffende Kompromissbereitschaft der Linken, die bis an die Grenze der Selbstverleugnung ging, hat diese erste rot-rot-grüne Troika auf Landesebene ermöglicht, seit es den am 3. Oktober 1990 begründeten Einheitsstaat gibt. Die Bereitschaft der Linken zum Nachgeben könnte dieser Regierung mehr auf die Sprünge geholfen haben als das Wahlergebnis vom 14. September.
Bereitschaft zum Verzicht
Wo sonst wird einer grünen Partei, die mit 5,7 Prozent gerade so in den Landtag kam, zugestanden, zwei Ministerien (Umwelt und Justiz) zu übernehmen? Auch die SPD (12,6 %) kann sich einer Präsenz in der Ramelow-Regierung erfreuen, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu politischen Schattendasein steht, das sie in Thüringen als CDU-Koalitionär gefristet hat. Die Sozialdemokraten besetzen nicht irgendwelche Ressorts. Die für Wirtschaft, Finanzen und Inneres gelten gemeinhin als „starke“ Ministerien, werden auch „strategisch“ genannt. Die Partei müsste auf einem Hochseil des erhabenen Gefühls herum turnen. Sie bekommt, was sie nicht verdient, aber gern nimmt, weil es ihr die Linke gibt oder geben muss. Die hatte am Wahltag immerhin mit 28,2 Prozent mehr Stimmen gewonnen als SPD und Grüne zusammen.
Insofern respektiert diese rot-rot-grüne Allianz zwar den Willen einer knappen Wählermehrheit, doch ist sie von der inneren Kräftebalance her auch eine Konzession an den Zeitgeist. Bundespräsident Gauck hatte vor Wochen unter Preisgabe amtsgebotener Neutralität in einem ARD-Interview erklärt: „Wir respektieren die Wahlentscheidungen der Menschen und fragen uns gleichzeitig: Ist die Partei, die da den Ministerpräsidenten stellen wird, tatsächlich schon so weit weg von den Vorstellungen, die die SED einst hatte bei der Unterdrückung der Menschen hier, dass wir ihr voll vertrauen können?"
Das klang so, als sollte die Linke besser darauf verzichten, auch nur den Versuch zu wagen, eine regierungsfähige Koalition mit der SPD und den Grünen zu bilden. Als seien für sie die demokratischen Regeln außer Kraft gesetzt. Nur warum? Weil die Partei büßen muss für Geschichte in Deutschland nach 1945, die nicht nur ihre Geschichte ist, sondern die sehr vieler Akteure? Oder weil sie sich als sozialistische Partei versteht, die kein Reparaturschlosser an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft sein will, sondern die Stirn hat, in Maßen darüber hinaus zu denken? Wie die vergangenen Wochen gezeigt haben, wird der Partei nichts geschenkt. Sie muss sich ihrer Haut sogar dadurch erwehren, dass sie dieselbe sehr wohlfeil zu Markte trägt – wie in Thüringen geschehen. Aber wie gesagt, Zugeständnisse an die Macht der Widersacher und an das Beharrungsvermögen einer Gesellschaft erscheinen zulässig, wenn sie die Chance in sich tragen, dies zu verändern. Und sei es nur um einen Hauch.
Erinnerung an Lothar Bisky
Vermutlich würde es diesen 5. Dezember so kaum geben, hätten nicht bei den Linken Bundes- wie Landespartei die Nerven behalten und angesichts einer konzertierten Kampagne der medialen und politischen Gegner, die sich oft wie Feinde anhörten, die Contenance verloren. Auch damit wurden Zeichen gesetzt – der Konfrontation dort ausweichen, wo man sie mangels Masse und Macht nur verlieren kann. Der Lohn dieser Vorsicht besteht in einer überschaubaren Teilhabe an politischer Verantwortung in Ostdeutschland. Er ist allein schon deshalb von Wert, weil es nun die Erfahrung gibt: Wie kann man die brisanten Zeiten zwischen Wahl, Sondierung, Koalitionsverhandlung und einer Regierungsbildung durchstehen, wenn Mitte-Links-Bündnisse in greifbare Nähe rücken.
Es geht um kein Modell, aber Einsichten, die nach Wahlen etwa 2016 in Sachsen-Anhalt, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern brauchbar sein können.
So ist – bei aller Einschränkung – Rot-Rot-Grün in Erfurt ein Wagnis mit Zukunft. Der Tabubruch, dass die Linke eine Landesregierung führen darf, weist über Thüringen hinaus, weil sich zeigt, dass politisch handlungsfähige Mehrheiten jenseits von CDU und AfD realistisch sind. So verhalten die in Erfurt erstrebte Reformpolitik auch sein mag – sie ist schon deshalb ein Politikwechsel, weil sie aus einem anderen politischen Lager kommt.
Ein später, aber verdienter Durchbruch nicht zuletzt für die Partei des Demokratischen Sozialismus PDS und ein Anlass, sich eines ihrer Begründer und ehemaligen Vorsitzenden Lothar Bisky zu erinneren, der 2013 verstarb. Bisky war im Oktober 2005 bei der Wahl zu einem der Vizepräsidenten des Bundestages gescheitert. Eine selbstgefällige Mehrheit hatte sich berufen gefühlt, ihm die demokratische Legitimation oder Eignung abzusprechen. Ist das nach diesem 5. Dezember 2014 endlich Vergangenheit?
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