Als im November 1986 in Rom 186 Staaten (112 durch ihre Premierminister oder Präsidenten vertreten) zu einem Welternährungsgipfel zusammen kamen, verpflichteten sie sich zu einem zeitlich begrenzten, überschaubaren und bescheidenen Ziel - sie wollten den Hunger in der Welt bis zum Jahre 2015 halbieren. Mehr als 15 Jahre später wurde nun im mexikanischen Monterrey darüber Auskunft gegeben, wie weit man damit ist. Während der UN-Konferenz über Entwicklungsfinanzierung tauchte dazu eine bemerkenswerte Zahl auf: 1960 waren die Einkommen der 25 reichsten Länder dieser Erde 37-mal höher als die der 25 ärmsten - 42 Jahre später sind sie um das 74-fache größer. Was kann Entwicklungshilfe dagegen ausrichten?
Ihre Wirkung lässt sich angesichts der zitierten Zahlen wohl am besten mit dem Effekt amerikanischer Care-Pakete vergleichen, die über afghanischen Gehöften niedergehen, in denen zuvor eine fehlgeleitete Rakete einschlug. Das Bombardement des guten Willens in Tuchfühlung mit dem Krieg gegen das Böse oder der geltenden Güterabwägung zwischen Gut und Böse. Entwicklungshilfe vermag unter dem Patronat der herrschenden Weltwirtschaftsordnung eine ähnlich zynische Humanität zu entfalten.
Das 1964 (!) auf der UN-Generalversammlung formulierte Ziel, 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts (BSP) der Industrieländer für Entwicklungsfinanzierung aufzubringen, hat dazu geführt, dass dieser Wert bei den Adressaten des UN-Appells seit 40 Jahren zwischen 0,2 und 0,4 Prozent pendelt. Ein Swing, der von den Reichen als eine Art Ablasshandel verstanden und selbstredend schon mit der nächsten Senkung von Unternehmens- oder Einkommenssteuern in Deutschland oder Großbritannien als viel zu hoch beklagt wird. Vielen Entwicklungsländern bleibt unter diesen Umständen in jüngster Zeit nur eine Zuflucht: sie erhalten in Anti-Terror-Allianzen Gelegenheit, sich auf absehbare soziale Explosionen in oder außerhalb ihrer Grenzen einzurichten.
Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler - UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung - hatte zum Treffen von Monterrey einen aufschlussreichen Report über Brasilien vorgelegt und darin ein Land beschrieben, das sich nach seinem Eindruck "in einem sozialen Krieg" befinde. In dieser ehrgeizigen Technologie- und Wirtschaftsmacht lebten 55 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze und seien größtenteils unterernährt. 55 Millionen von derzeit 173 Millionen Einwohnern entsprechen 32 Prozent. Fast ein Drittel. Dabei ist keineswegs eine Zahl genannt, die Ziegler allein eigener Recherche verdankt. Sie wird in eben dieser Höhe durch Angaben der Brasilianischen Bischofskonferenz bestätigt, während die Regierung des sozialdemokratischen Präsidenten Cardoso nur 24 Millionen zugibt. Immer noch eine monströse Zahl.
In Brasilien, dem begehrten Reiseland der Deutschen, sterben pro Woche 400 bis 500 Menschen an Unterernährung - das heißt, sie verhungern schlichtweg. Sie verhungern in einem Land, das von seinem Potenzial her - man denke nur an den Finanztransfer, der tagtäglich die lateinamerikanische Leitbörse in Sao Paulo durchläuft - zu den ökonomischen Großmächten unserer Zeit gehört. Die Regierung Brasiliens würde sich vehement dagegen wehren, mit Sierra Leona, Somalia oder dem Sudan verglichen zu werden - den längst verwaisten, siechen Nomaden des Elends, denen es bei Anlässen wie Monterrey erlaubt ist, für Tage aus dem Niemandsland des Weltgewissens aufzutauchen, aus dem sie ansonsten nur herbei zitiert werden, um als Basislager des internationalen Terrorismus ins Gerede zu kommen.
Jean Ziegler will in Brasilien auf Somalia gestoßen sein - er spricht von den zwei Gesellschaften, in die das Land zerfallen sei. Brasilien existiere als Hoch-Industriemacht und könne es darin mit Großbritannien oder Deutschland aufnehmen, und es existiere in der Elendsgestalt Somalias, sprich: als Schattenreich, in dem nur gelebt wird, um zu überleben oder zu sterben. Wenn man das reichste Fünftel der Brasilianer mit dem Fünftel vergleiche, das über ein minimales oder kein Einkommen verfüge, dann sei das Gefälle so kolossal, dass die Regionalmacht Brasilien inzwischen neben Südafrika als die Gesellschaft mit der größten sozialen Kluft gelten müsse.
In einem solchen Fall kollidieren nicht Zivilisation und Barbarei. Hier sorgt sich, jenseits jedes zivilisatorischen Wertekanons, aber offenbar mit dessen Segen, allein die Barbarei um eine soziale Apartheid, die mörderischer kaum sein kann. Konferenzen wie die von Monterrey ändern daran nichts (so sehr auch Politikerinnen wie die Entwicklungshilfeministerin Wieczorek-Zeul den Eindruck erwecken), weil sie sich jener Realität gar nicht bewusst werden wollen. Wenn bei alldem der soziale Krieg in einen "Krieg der Kulturen" ausartet, über den im Westen aus Gründen der Selbstvergewisserung und des Selbsterhalts gern geredet wird, dann zieht dabei einzig und allein die Unkultur der Barbarei gegen das Recht auf Leben in die Schlacht.
Die eingangs zitierten Angaben über die gigantische Kluft zwischen armen und reichen Nationen dieser (Einen-)Welt wurden im Übrigen nur von einem der 170 Hauptredner des Plenums von Monterrey genannt, dem kubanischen Staatschef Castro, der vorzeitig abreisen musste, da US-Präsident Bush mit ihm nicht im gleichen Konferenzsaal sitzen wollte.
Bush wiederum hätte in Monterrey keine treffendere Rede halten können als jene, die er unmittelbar nach dem 11. September im US-Kongress verlas. Eine Passage bot sich für das UN-Treffen ganz besonders an: "Die Bürger Amerikas fragen, warum sie uns hassen? Ich sage: Sie hassen unsere Freiheiten ..."
Bombardement des guten Willens
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