Braunbuch: Ein Dossier unterläuft die NS-Propaganda
Zeitgeschichte 1933: Die Dokumentensammlung des Kommunisten Willi Münzenberg erregt international Aufsehen. Das legendäre Dossier aus dem Pariser Exil zeigt, wie die Nazis den Reichstagsbrand auch zur Entmachtung eng verbündeter Deutschnationaler nutzten
Als der Kurier Alfred Kattner am späten Nachmittag des 3. März 1933 an einer Briefklappe in der Lützower Straße 9 das vereinbarte Zeichen gibt, steht er kurz danach den gezogenen Pistolen zweier Polizisten gegenüber. In der Wohnung selbst warten drei Verhaftete auf den Abtransport zum 121. Revier in Berlin-Charlottenburg. Einer davon ist der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann, der bei der Familie von Hans Kluczynski vor Tagen ein illegales Quartier bezogen hat. Thälmann sollte längst ins Jagdhaus „Horrido“ in Märkisch-Buchholz bei Berlin ausgewichen sein, doch hat er sich dem Drängen des KPD-Nachrichtendienstes vor allem aus einem Grund widersetzt: Er will in Berlin und nirgendwo sonst an der Spitze der Partei bleiben. Bis zum 5. M&
März auf jeden Fall, bis zum Tag der letzten halbwegs freien Reichstagswahl.Nachdem Reichspräsident Paul von Hindenburg in autokratischer Manier Adolf Hitler zum Kanzler erklärt hat, und die SPD den Generalstreik scheut, hofft die KPD wieder auf sechs Millionen Stimmen wie bei der Wahl am 6. November 1932 – wenn nicht mehr. Je stärker wir sind, glaubt Thälmann, desto weniger werden es die Führer der NSDAP und ihre Handlanger von der Deutsch-Nationalen Volkspartei (DNVP) wagen, uns zu verbieten. Nur so lasse sich der Übergang von der Hitler-Regierung zur Hitler-Diktatur aufhalten. Und spricht nicht das Exekutivkomitee der Komintern in Moskau von einer „revolutionären Situation“, die Deutschland erfasst habe?Tut sie, nur mit welcher Berechtigung? Sich ausgerechnet durch diese Wahl behaupten zu wollen, ignoriert ein prekäres, um nicht zu sagen: hoffnungsloses Dasein. Das letzte halbwegs unangetastete Refugium der KPD ist die Reichstagsfraktion. Ansonsten muss sie in die Illegalität ausweichen, ist das Karl-Liebknecht-Haus am Berliner Bülow-Platz besetzt, Material für den Wahlkampf beschlagnahmt, das Parteiblatt Rote Fahne verboten.Hermann Göring inszeniert eine kommunistische VerschwörungUnd dann lassen am Abend des 27. Februar lodernde Flammen die Kuppel des Reichstages bersten. Im Gebäude wird der junge Niederländer Marinus van der Lubbe verhaftet, der mit Kohlenanzündern und verfeuerten Kleidungstücken innerhalb von 15 Minuten den Plenarsaal in ein Flammenmeer verwandelt haben will. Hermann Göring lässt ihn umgehend zum Werkzeug einer kommunistischen Verschwörung ausrufen, die ein Fanal des Aufstandes „gegen den Staat“ setzen wolle. Die Repressionen gegen die KPD erreichen ein Ausmaß, das eine Liquidation der Partei besiegeln soll.Allerdings richtet sich der Enthauptungsschlag nicht nur gegen den Hauptfeind der Nazis – der brennende Reichstag ist für Hitler und Göring zugleich willkommener Anlass, die Kabinettsherrlichkeit abzuräumen, in der sich die Deutsch-Nationalen als Koalitionär einer „Regierung der Nationalen Konzentration“ eingerichtet haben. Seit deren Antritt am 30. Januar gibt es acht Ressortchefs, die entweder zur DNVP gehören oder mit ihr sympathisieren wie Reichswehrminister Werner von Blomberg. Ihnen stehen aus der NSDAP außer Hitler nur Wilhelm Frick für Inneres und Hermann Göring als Minister ohne Geschäftsbereich gegenüber. Hitler hat mit dem Amtseid im Beisein aller Kabinettsmitglieder versprechen müssen, unabhängig vom Ausgang der anstehenden Reichstagswahl jeden Minister zu halten. Audienzen beim Reichspräsidenten sind ihm als Regierungschef nur zugestanden, wenn Vizekanzler Franz von Papen (DNVP) dazustößt. Der wiederum sieht sich zum Staatskommissar für Preußen ernannt, obwohl seit dem Putsch vom 20. Juli 1932 gegen die preußische Regierung dieses Amt dem Reichskanzler zufällt – Hitler nicht. Die „Schikane“ zählt zu den Vorkehrungen, mit denen das rechtsnationale Lager um die DNVP den rechtsextremen Kanzler „einrahmen“ will.Ein verstiegenes, irreales Ansinnen, mit dem eine elitäre Clique über ihre Verhältnisse lebt. Ausgerechnet ihrem Mäzen Paul von Hindenburg ist es vorbehalten, sie darüber nicht länger im Zweifel zu lassen, als er mit der „Reichstagsbrandverordnung“ vom 28. Februar die Weimarer Republik durch Staatsterror einäschern hilft. Mit der „Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat“ entfallen nicht nur alle bürgerlichen Grundrechte von der Pressefreiheit bis zum Postgeheimnis, von nun an kann für „staatsgefährdende Verbrechen“ (Hochverrat, Brandstiftung, Sabotage, zerstörte Bahnanlagen), auf die bisher lebenslanges Zuchthaus stand, die Todesstrafe verhängt werden. Was auch rückwirkend geschieht, wie das Todesurteil gegen van der Lubbe Ende 1933 zeigen wird. Nun bleibt den Deutsch-Nationalen nichts weiter übrig, als sich für den Hochverrat an der Republik ihrerseits von den Nazis „einrahmen“ zu lassen – und die Entmachtung zu schlucken.Korrespondenten in Berlin halten das Papier für glaubwürdigHermann Göring nimmt als kommissarischer Innenminister Preußens die gesamte Polizei, auch die Berlins, unter seine Fuchtel. Er ernennt nach dem Reichstagsbrand SA-Männer zu Hilfspolizisten, die nicht nur mehr dürfen als reguläre Beamte, sondern die Polizei kriminalisieren. Dass sich unter diesen Umständen DNVP-Politiker vom Regierungslager abwenden, wird kaum ruchbar, findet aber trotzdem statt. Angewidert, voll düsterer Ahnungen macht Ernst Oberfohren, DNVP-Fraktionschef im Reichstag, kein Hehl aus einem Gefühl des Ekels und der Bedrängnis. Er spricht darüber in Interviews für verbotene, ins Ausland ausgewichene Zeitungen und verschickt anonyme Briefe, in denen er DNVP-Notabeln wie Parteichef Alfred Hugenberg zum Rücktritt auffordert.Schließlich taucht eine „Oberfohren-Denkschrift“ auf, um die NS-Führer zu beschuldigen, für den Reichstagsbrand verantwortlich zu sein. Das Papier kursiert im März 1933 unter in Berlin ansässigen Korrespondenten, wird als Quelle betrachtet und für glaubwürdig gehalten. Auch die Gestapo, der ein Exemplar zugespielt wird, will nicht ausschließen, dass die rechtskonservative Kaste ein Zeichen gegen den Absturz setzen will. Kurzzeitig wird gar Vizekanzler von Papen für den Verfasser gehalten. Oberfohren schweigt und wird überwacht. Noch vor dem Wahltag am 5. März zieht er sich aus der Politik zurück. Man findet seine Leiche am Morgen des 7. Mai 1933 in der Kieler Privatwohnung und geht von Selbstmord aus, auch wenn Gerüchte nie ganz verstummen, ein SA-Trupp habe ihn erschossen.Ob Oberfohren die „Denkschrift“ tatsächlich geschrieben oder lediglich Informationen und Einschätzungen geliefert hat, damit andere sie schreiben, ist bis heute umstritten. Die Authentizität des Memorandums wird indes kaum angezweifelt. Es konnten einst auch deshalb so viele lesen, weil dem Urheber postum Beistand von unerwarteter Seite zuteilwurde. Das am 1. August 1933 in Paris veröffentliche, auf riskanten Wegen nach Deutschland geschleuste Braunbuch über Reichstagsbrand und Hitlerterror zitiert Oberfohrens Vermächtnis. Herausgeber und Finanzier des einzigartigen Dossiers über die Marter der ersten Monate NS-Diktatur ist der Kommunist Willi Münzenberg, der in den 1920er Jahren – weitgehend außerhalb des Propaganda-Apparates der KPD – einen Medientrust aufbaut. Der wirkt in Arbeiter- und Intellektuellen-Milieus hinein, in denen die Partei schwer ankommt. Sofort nach dem Reichstagsbrand flieht Münzenberg nach Frankreich, übernimmt den Verlag Editions du Carrefour und widerlegt mit dem Braunbuch den NS-Bluff vom Reichstagsbrand als „Schandtat kommunistischer Verschwörer“.Ein langes Zitat im Buch aus der „Oberfohren-Denkschrift“ spricht vom Wunsch der DNVP, „die Kommunistische Partei unter allen Umständen an den Wahlen teilnehmen zu lassen“. Begründung: „Man wollte verhindern, dass die Nationalsozialisten allein die absolute Mehrheit im Reichstag bekommen.“ Die bekamen sie nicht, doch weil die 81 Mandate der KPD vom 5. März 1933 annulliert wurden, fiel es gegen die verbliebenen 120 SPD-Abgeordneten leicht, Hitlers Ermächtigungsgesetz durchzubringen. Ende Juni 1933 fand sich die DNVP prompt aufgelöst, der Reichstagsbrand hat ganze Arbeit geleistet.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.