Die russische Regierung erregt Anstoß. Wegen ihrer Syrien-Politik, ihrer Iran-Politik, ihres Umgangs mit den Menschenrechten, ihres fehlenden Reformwillens, ihrer Wirtschafts- und Investitionspolitik, ihrer Kaukasus-Politik, ihrer Nuklearpolitik und so weiter. Und das hat besonders einen Grund: Wladimir Putin gehorcht der absurden Auffassung, Präsident eines souveränen Staates zu sein, der eigene Interessen hat und sie entsprechend wahrnimmt. Für die deutsche Russland-Politik scheint das eine solche Zumutung zu sein, dass sie permanent einem notorischen Reflex verfällt: Dieser Partner wird ermahnt und zurechtgewiesen, wann immer es geht. Und es geht eigentlich immer. Selbst in der Petersburger Eremitage bei der Eröffnung einer Ausstellung über die Bronzezeit.
Fragwürdiges Kalkül
Kanzlerin Merkel hat nicht darauf verzichtet, Gastgeber Putin öffentlich darüber ins Bild zu setzen, dass etliche der gezeigten Exponate nach Deutschland gehörten, seien sie doch Teil der sogenannten „Beutekunst“.
Es ausgerechnet in der Stadt an der Newa auf einen solchen Eklat ankommen zu lassen, zeugt nicht eben von viel Sensibilität. Bestenfalls ist Merkel gerade so an einer historischen Instinktlosigkeit vorbeigeschrammt, die gegenüber Russland offenbar als opportun gilt, zumal sie in Deutschland auf Beifall rechnen darf. (Man erinnere sich nur, wie kleinlaut und verschämt vor Tagen der US-Präsident bei seinem Berlin-Besuch darum gebeten wurde, den totalitären Überwachungswahn seiner Geheimdienste zu zügeln). Was Merkel meinte, in St. Petersburg sagen zu müssen, folgte – bezogen auf Ort und Gelegenheit – einem eher fragwürdigen Kalkül. Was keine drastische Formulierung ist, sondern ein Eindruck, der etwas mit der Verhältnismäßigkeit politischen Handelns zu tun hat.
Als sie noch Leningrad hieß, wurde die Stadt im Norden Russlands zwischen September 1941 und Januar 1944 gut 900 Tage lang von Hitlers Wehrmacht belagert und sollte ausgelöscht werden – ein Genozid durch Verhungern, für den es in der Weltgeschichte kein Beispiel gibt. „Nichts ist vergessen, und niemand ist vergessen“, mit diesen Worten endet ein Gedicht von Olga Bergholz, geschrieben seinerzeit im eingeschlossenen Leningrad. Das Versprechen klang wie ein Schwur. Die Gedenkstätte auf dem Piskarjowskoje-Friedhof in St. Petersburg, auf dem Massengräber mit den Opfern der Blockade liegen, lässt erfahren, was der Schwur für die russische Gesellschaft bis heute bedeutet. Und für Deutschland? Sollten im Umgang mit diesem Teil der eigenen Vergangenheit nicht der gleiche Respekt und das gleiche Einfühlungsvermögen gelten wie gegenüber Israel?
Während der Blockade starben mehr als 1.100.000 Menschen, die meisten erfroren oder verhungert, eine kaum zu sühnende und schon gar nicht zu tilgende Kriegsschuld. Natürlich auch nicht durch Kulturgüter und Kunstwerke – Bücher, Gemälde, Archivalien, archäologische Fundstücke –, wie sie die Rote Armee nach dem Zweiten Weltkrieg als Kompensation für das deutsche Vernichtungswerk in die Sowjetunion brachte.
Wessen Nofretete
Eine deutsche Regierungschefin hätte sich in der Eremitage um Großzügigkeit statt Rechthaberei bemühen sollen. Auf Rückgabe der Beutekunst zu bestehen und Präsident Putin quasi unter den Augen der Geschichte und an diesem Ort, eine Lektion zu erteilen, war sicher der beste Weg, eine Verständigung über dieses Thema zu blockieren. Jeder könne doch nach Petersburg kommen und die jetzt in der Ausstellung über die Bronzezeit gezeigten Exponate sehen, konterte Putin. Dieses Argument deckt sich mit der Ansicht, das Weltkulturerbe gehöre der ganzen Menschheit, auf die in Berlin gern zurückgegriffen wird, wenn aus Kairo die Forderung kommt, die Nofretete möge endlich nach Ägypten zurückgeschickt werden.
Im Übrigen übergab die Sowjetunion schon 1955 die Dresdner Gemäldegalerie an die Regierung der DDR – 1958 folgte der Pergamon-Altar, 1972 die Berliner ethnologische Sammlung. Nach 1990 einigten sich Kanzler Kohl und der damalige Präsident Jelzin über die Rückkehr einiger Kulturgüter. Es gibt also durchaus Möglichkeiten, sich zu arrangieren, wenn der Wille dazu vorhanden ist und darauf verzichtet wird, sich gegenseitig unter Druck setzen.
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