Zukunftsglaube und Überschwang scheinen gelitten zu haben, seit die EU viel Gegenläufiges aushalten muss, um sich selbst zu halten. Dabei markiert der Brexit eine bis dato unbekannte Zäsur, war doch die Staatenunion seit ihren Anfängen 1957 – als EWG, EG und EU – stets auf Zuwachs, nie den Verlust bedacht. Scheidet erstmals ein Mitglied aus, ist das ein einmaliger Vorgang und die rumorende Furcht erklärbar, der EU komme die permanente Evolution, der Wechsel von Erweiterung und Vertiefung, abhanden. Sie sei zwar ein singulärer, aber letztlich vorübergehender europäischer Aggregatzustand, vertraglich und administrativ gut, aber nicht auf ewig verankert. Staatenbünde kommen und gehen wie die Staaten, von denen sie ausgehen. Es unterwirft sich historisierender EU-Beschwörung, wer das Phänomen temporärer, wechselnder und zerfallender Allianzen ausblendet.
Die einst rein westeuropäische Assoziation war gegen Rückschläge nie gefeit. Die gab es, als Präsident de Gaulle 1963 das Veto Frankreichs gegen die sich anbahnende Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) einlegte. Der Bann aus Paris hielt ein volles Jahrzehnt, bis de Gaulles Nachfolger Pompidou den Briten schließlich 1973 einen Laissez-passer ausstellte, um (west-)deutscher Macht entgegenzuwirken. Man sollte an den EU-Verfassungsvertrag denken, der 2005 scheiterte, als sich bei Referenden in Frankreich und den Niederlanden eine Mehrheit dieser Magna Charta verweigerte. Ganz zu schweigen von der Währungsunion, die im Sog der 2008 ausbrechenden Weltfinanzkrise zu bersten drohte.
Skurriler britischer Eigensinn
Angesichts dieser Vorgeschichte verheißt der Briten-Ausstieg Ende März 2019 keine Krise von homerischem Ausmaß. 45 Jahre EU-Mitgliedschaft Britanniens stehen für den Hang zu eigensüchtiger, teils skurriler Subversität. Vielleicht erwecken die Exit-Verhandlungen auch deshalb den Eindruck, Kontinentaleuropa sei nicht unglücklich darüber, einen historischen Irrtum korrigieren – die imposante Leiche mit Anstand, aber ohne Aplomb versenken zu können. Je gründlicher dies geschieht, desto exemplarischer gerät der Vorgang, um Nachahmer zu schrecken. Im Unterschied zur Eurokrise verfällt das EU-Universum keiner ausufernden Kakofonie, sondern handelt mit strukturierter Konsequenz. An der Federführung der EU-Kommission bei den Brexit-Talks, speziell am Mandat von Chefemissär Michel Barnier, wird nicht gerüttelt. Was er erreicht oder schuldig bleibt, dürfte in diesem Jahr mindestens drei EU-Gipfel beschäftigen, erstmals am 22./23. März, erneut am 18./19. Oktober. Spätestens dann sollte geklärt sein, ob die EU den Abgängern eine zweijährige Übergangsperiode zugesteht, in der sich Binnenmarkt und Zollunion weiter auskosten lassen – oder genau das entfällt. Gibt es dazu im Herbst keinen Konsens zwischen London und Brüssel, muss der letzte Europäische Rat des Jahres Mitte Dezember entscheiden, ob Großbritannien ohne Vertrag ausscheidet. Bekanntlich eine Variante, die Theresa May nie ausgeschlossen hat.
Der Ausstieg der Briten löse Sorge, aber keine Panik aus, heißt es denn auch in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), die Reaktionen in ausgewählten EU-Staaten auf den Brexit einfängt und auf dieser Seite (s. Grafiken) in Auszügen dokumentiert wird. Die dazu im Vorjahr – u.a. in Frankreich, Italien, Deutschland, Tschechien, Schweden und der Slowakei – gesammelten Daten deuten darauf hin, dass der Brexit vorwiegend unaufgeregt quittiert wird, weil er dem Allgemeinzustand der EU mehr ent- als widerspricht. Einstellungen von EU-Bürgern, die sich im letzten Jahrzehnt verfestigt haben, werden davon kaum tangiert: das erschütterte Vertrauen in den Euro zum Beispiel, die Überzeugung in unteren Bevölkerungsschichten, dass mit der EU soziale Ungleichheit verstärkt wird, oder der Eindruck, durch die seit 2015 anschwellende Migration Ressourcen für die Abwehr von Arbeitslosigkeit wie Wohnungsnot zu verlieren.
Wie die Umfragen zeigen, wird wegen des Brexits mehr Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten befürwortet, das aber in unterschiedlichem Maße. In Tschechien wie Schweden ist der Anteil derer hoch, die dabei dem Nationalstaat mehr Geltung verschaffen wollen. Dies korrespondiert mit dem Eindruck eines Drittels bis Viertels der Interviewten (nicht zuletzt in den EWG-Gründungsstaaten Italien und Frankreich), wonach derzeit die Nachteile einer EU-Mitgliedschaft größer seien als die Vorteile. Noch deutlicher fällt das Urteil aus, wird nach der Kausalität zwischen EU-Zugehörigkeit und Wohlfahrt gefragt. Bis auf die Slowakei liegt das Votum jener, die in der EU eine Ursache für sinkenden Lebensstandard sehen, jeweils über 30 Prozent. Ein Wert, der mutmaßlich Folgen einer Austeritätspolitik spiegelt, wie sie seit dem Vertrag von Lissabon (2007) die EU beherrscht.
Zudem gab es bei der Frage, ob die EU-Mitgliedschaft mehr als Chance denn Risiko gesehen wird, im Vorjahr ein Verhältnis von 61 zu 29, während Ende 2015 die Chance noch bei 46 gesehen wurde. Die Tendenz dürfte weniger dem Brexit als dem Umstand geschuldet sein, dass 2015 noch Barack Obama in den USA regierte. Donald Trump und das America-First-Dogma lagen jenseits des Vorstellbaren. Will heißen, es erschien nicht wie heute geboten, in der EU wegen äußerer Widrigkeiten auf mehr inneren Zusammenhalt zu achten.
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