Da hilft kein moralischer Imperativ

G192 Ministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul über die Bedeutung der G192 in der Wirtschaftskrise, die Verantwortung der EU und über Entwicklungshilfe als Charaktertest

Der Freitag: Wieder gibt es zu einem Gipfel der G8-Staaten viel Unbehagen über deren Leistungen für die Entwicklungsländer. Sollte man nicht über einen Systemwechsel nachdenken, bei dem die Selbstverpflichtung der G8 abgeschafft und lieber ein Pflichtbeitrag erhoben wird – wie bei der UN-Mitgliedschaft?

Heidemarie Wieczorek-Zeul:

Ich halte das für einen vernünftigen Ansatz. Bis wir allerdings erreicht hätten, was Ihnen vorschwebt – denn es müsste ja jeder zustimmen – , würde viel Zeit vergehen. Also bleibt nichts anderes, als darauf zu beharren, dass die Selbstverpflichtungen der G8 jetzt eingelöst werden. Aber ich hoffe schon auf die UN-Konferenz, die wir gerade hinter uns gebracht haben, um die Dinge voranzubringen.

Sie meinen die UN-Konferenz der G192, die gerade in New York stattfand.

Genau die.

Da fällt von den Ergebnissen her ein Hang zu neuen Institutionen auf, etwa ein intergouvernementales Panel für Systemrisiken, vergleichbar dem Weltklimarat IPCC. Was kann ein solches Gremium leisten?

Ich gehöre ja der Kommission des Wirtschaftsnobelpreisträgers Joseph Stiglitz an, in der uns die Frage beschäftigt hat: Wie können wir dazu beitragen, dass Entwicklungsländer in der Krise nicht zusätzlich belastet werden, sondern in der Lage sind, selbst antizyklisch zu handeln wie die Industriestaaten. Zugleich haben wir uns gefragt: Wie lassen sich systemische Risiken erkennen? Daraus entstand der Vorschlag, ein

Wenn es zu diesem Panel käme, wäre die UNO um eine Institution reicher ...

… nicht um irgendeine. Wir hätten damit eine Vorstufe zu einem Weltwirtschaftsrat, dessen Anhängerin ich bin, und der in der UN-Charta verankert werden sollte. Bis das so weit ist, dauert es aber. Also sollte dieses Panel zunächst traditionelles ökonomisches Denken überwinden, Risiken für die finanzielle Stabilität der Staaten erkennen und verhindern, dass nach der Krise alles so weiter geht wie vor der Krise – und das Casino erneut geöffnet ist.

Eine Art Frühwarnstation?

Ein Versuch, die UN ökonomisch zu stärken.

Der UN-Gipfel der G192 war kaum mit hochrangigen Delegationen gesegnet, nur 20 Regierungschefs kamen. Man hätte erwartet, dass die Entwicklungsländer mehr Präsenz zeigen. Weshalb taten sie es nicht, Desinteresse oder Resignation?

Einer der Gründe war sicher, dass die Konferenz kurzfristig um drei Wochen verschoben wurde. Welcher Staatschef sitzt zuhause und wartet darauf, dass er irgendwann drei Tage in New York sein soll? Ich habe meinen Zeitplan umgestrickt, weil ich wild entschlossen war, hinzufahren. Das war schwer genug.

Es heißt, die sehr kapitalismus-kritischen Positionen des derzeitigen Präsidenten der UN-Generalversammlung, des Nicaraguaners d’Escoto Brockmann, hätten bei der Verzögerung eine Rolle gespielt. Stimmt das?

Also ich gehöre auch zu denen, die den Marktradikalismus kritisieren, was übrigens fast jeder tat, der sich in New York zu Wort gemeldet hat. Ich drücke es einmal diplomatisch aus, man kann nicht erst zwei Fazilitatoren den Auftrag geben, einen Text zu entwickeln, und dann auf einmal selbst einen Text vorlegen. Wir haben schließlich ein Dokument verabschiedet, das sich an die Schnittstelle der Interessen hielt, wie sie die europäischen Staaten einerseits und die afrikanischen und andere Entwicklungsländer ihrerseits haben. Es gab nur abweichende Positionen der ALBA-Länder um Venezuela und Kuba.

Weil sie gerade Staaten der Bolivarischen Alternative ALBA nennen: Beeinflussen die integrativen Ansätze und antikapitalistischen Positionen dieser Länder Konferenzen wie die von New York inzwischen mehr als vielleicht noch vor zehn Jahren?

Vor zehn Jahren hat ja auch ein Teil der lateinamerikanischen Staaten den Marktradikalismus hergebetet. Was habe ich früher in der Weltbank für Tiraden von manchen Schwellenländern zu hören bekommen. Da wurde man blass – jetzt hat sich das generell geändert. Marktkritisch äußern sich nicht nur die Lateinamerikaner. Ich habe das vor den G192 auch getan. Die Frage ist: Welche Strategie leitet man daraus ab. Und da kann ich nur sagen, alle regionalen Initiativen sind immer von Vorteil. Wer größere Märkte schafft, der sorgt für mehr Spielraum – das ist die Grunderfahrung der EU. Ob die von Venezuela begründete Banco del Sur aber wirklich so viel bewirkt wie erhofft, weiß ich nicht. Wir hatten in der Stiglitz-Kommission einen Dissens zu der Frage, wie mobilisiert man neue Finanzmittel? Mit den alten Institutionen oder lieber mit neuen. Nur mit neuen – das dauert immer ewig. Daher scheint es besser, die alten zu reformieren.

Indem man sich zum Beispiel von der Leitwährung des Dollar verabschiedet, wie das die Stiglitz-Kommission anregt?

Damit wird etwas begonnen, was es beim Internationalen Währungsfonds mit den Sonderziehungsrechten inzwischen mehr und mehr gibt. China hat gerade eine Anleihe von 50 Milliarden Dollar gekauft, die vom IWF ausgegeben wird und in Sonderziehungsrechten nominiert ist. Im Grunde genommen entspricht das dem, was viele Entwicklungsländer wollen: auf Dauer ein Weltreservesystem zu schaffen, was Keynes schon 1944 gefordert hat. Das ist damals am Widerstand der Amerikaner gescheitert.

Wie bewerten sie die Stiglitz- Option, 0,7 bis 1 Prozent der jetzigen Konjunkturprogramme, die in den Industriestaaten aufgelegt werden, für Entwicklungshilfe zu reservieren?

Das ist eine Initiative, die von uns kommt. Es ist schon aufschlussreich, dass dies in Deutschland kaum wahrgenommen wurde.

Eine Initiative Ihres Ministeriums …

…ja, und eine der Bundesregierung, die in ihrem zweiten Stabilitätspakt diese Option aufgenommen hat.

Was ist da genau festgelegt?

Wir haben uns zur Unterstützung des Infrastruktur-Programms der Weltbank bekannt, indem wir gesagt haben, wenn dort verankerte Projekte durch die Krise gefährdet sind, werden wir diese mitfinanzieren. Das war im Haushaltsausschuss durchaus umstritten, ist aber dann so beschlossen worden. Und wir haben 130 Millionen Euro zur Stabilisierung der Mikrofinanz-Institutionen in den Entwicklungsländern zur Verfügung gestellt, was auch nicht groß wahrgenommen wird. Dort hatte sich privates Kapital in großem Umfang zurückgezogen, so dass Mikrokreditbanken gefährdet waren. Jetzt werden sie stabilisiert.

Sie meinen Kredite für Frauen und kleine Landwirte.

Eben die, das ist nicht nur für die Armen besonders wichtig, sondern dieses System ist auch besonders effizient.

Nun will die EU bis 2015 0,7 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufbringen – halten Sie dieses Ziel für realistisch, wenn man sich anschaut, wie Kernstaaten der Union die Staatsverschuldung hochfahren?

Um sich vor Augen zu halten, worum es geht: Die Mittel, die wir im Entwicklungshilfeministerium einsetzen, sind zwei Prozent des Bundeshaushaltes. Und ich finde es völlig inakzeptabel, wenn ein Teil der EU-Länder jetzt anfängt, diese Mittel zu kappen. Wenn genügend Geld zur Verfügung steht, um das Finanzsystem zu retten, sollten auch Mittel verfügbar sein, um die Welt vor Hunger, Armut, Arbeitslosigkeit und Klimawandel zu retten.

Keine Frage. Nur werden die Prioritäten eben anders gesetzt. Was bleibt außer dem moralischen Imperativ?

Der ist notwendig, ebenso wichtig bleibt das aufgeklärte Eigeninteresse. Wir sind unter den größten Exportnationen, also müssen wir etwas tun, damit es in anderen Regionen gerecht zugeht, Menschen Kaufkraft haben und wir in der Überzeugung handeln, nur gemeinsam kommen wir aus der Krise heraus.

Die Forderung, dass Industriestaaten 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufwenden, ist erstmals 1964 erhoben worden. Warum blieb man denoch Jahrzehnte lang darunter?

Wissen Sie, warum? Von anderen Gründen abgesehen, wurde nie ein Zeitziel gesetzt. Wir hätten heute noch keinen Euro, wenn die Staatschefs der EU mit dem Maastrichter Vertrag nicht ein Zeitziel gesetzt hätten. Die EU hat das zum ersten Mal auch bei der Entwicklungszusammenarbeit getan. Es war 2001, als die EU-Entwicklungsminister gesagt haben: Wir wollen bis 2006, dass von allen Mitgliedsstaaten 0,33 Prozent des Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe ausgegeben werden. Dann gab es die Marke 0,51 bis 2010 und 0,7 Prozent bis 2015. Daran müssen sich Regierungen jetzt messen lassen. 1998, als ich dieses Ressort übernahm, habe ich 0,26 Prozent vorgefunden – 0,26 Prozent des Bruttosozialprodukts der Bundesrepublik wurde für Entwicklungshilfe ausgegeben.

Extrem wenig.

1982 war man schon einmal bei 0,47 Prozent.

Nun gab es 2007 in Heiligendamm auf dem G8-Gipfel die Ankündigung eines 45-Milliarden-Euro-Programms zur Bekämpfung von AIDS und Malaria in den Entwicklungsländern. Das wurde als Signal empfunden. Welches Signal sollten die G8 in Italien aussenden?

Es hat immer bei allen G8-Treffen einen „Leuchtturm“ gegeben – 1999 in Köln und später in Glen­eagles gab es einen Schuldenerlass für die Entwicklungsländer im Umfang von 115 Milliarden Dollar. 2002 gab es den Globalen Fonds zur Bekämpfung von Malaria und AIDS, 2005 einigte man sich auf die Verdopplung der Mittel für Afrika. Nehmen Sie nur diesen Globalen Fonds, der ist extrem wichtig.

Ich habe gerade die W8-Frauen getroffen, die vor jedem G8-Gipfel ihre Positionen zum Ausdruck bringen. Und eine Thailänderin sagte mir, der Globale Fonds gegen AIDS hat bei uns hunderttausend Menschen das Leben gerettet, die sonst nie hätten behandelt werden können. Insgesamt hat dieser Fonds, seit er aufgelegt wurde, drei Millionen Menschen geholfen. Jetzt wäre die Zeit für eine Initiative zur Ernährungssicherheit. Und generell hoffe ich, dass in L’Aquila die Lücken, die wir bei den Zusagen für Afrika haben, geschlossen werden – das wäre schon etwas.

Das Gespräch führte Lutz Herden

Die G192 verschaffen sich Gehör


New Yorker Gipfel

Die UN-Konferenz über die Finanz-krise und deren Auswirkungen auf die Entwicklung findet vom 24. bis 26. Juni in New York statt. Einen denkwürdigen Satz formuliert UN-Generalsekretär Ban gleich zur Eröffnung: Wenn die reichen Länder 18 Billionen Dollar aufwenden, um ihr Finanzsystem am Leben zu erhalten, müssten sich auch 18 Billionen zur nachhaltigen Entwicklung finden. Die Mehrheit der in New York versammelten Staaten will sich von reichen Industriestaaten nicht vorschreiben lassen, wie die Krise zu bewältigen ist, und pocht auf eine Neuordnung des Finanzsystems und der globalen Ökonomie. Viele Entwicklungsländer berufen sich auf den kurz zuvor veröffentlichten Stiglitz-Report.

Stiglitz-Report

Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz kann seine Kommission Anfang 2009 erstmals versammeln. Sie ist auf Initiative des ehemaligen nicaraguanischen Außenministers Miquel dEscoto Brockmann entstanden, der das Gremium Ende 2008 als Präsident der UN-Generalversammlung berufen hat. Ihr gehören 18 Wissenschaftler und Politiker an, darunter aus Deutschland Ministerin Wieczorek-Zeul. Als die Kommission für den G20-Gipfel Anfang April in London einen ersten Bericht vorlegt, wird der nicht weiter beachtet. Sie legt nach mit dem Report vom 21. Mai 2009 und ihrem Urteil: Es müsse endgültig mit der Auffassung gebrochen werden, wonach sich deregulierte Märkte selbst regulieren und effizient seien. Man müsse auch den Entwicklungsländern die Möglichkeit einräumen, auf die Krise antizyklisch zu reagieren, wenn 40 der ärmsten Staaten in akute Zahlungsschwierigkeiten gerieten. Der Stiglitz-Report schlägt vor: 0,7 bis 1 Prozent aus den Konjunkturprogrammen des Nordens sollten für die Entwicklungshilfe reserviert werden. Man müsse ein anderes Weltwährungssystem installieren. Was neue Institutionen betrifft, rät das Gremium zu einem Internationalen Insolvenzgerichtshof und einem globalen Wirtschaftskoordinationsrat, die beide der UNO zugeordnet sind.

G8-Entwicklungshilfe

2005 hatten die G8 in Gleneagles beschlossen, ihre Gesamthilfe für die Entwicklungsländer bis 2010 auf 50 Milliarden Dollar aufzustocken. Erst ein Drittel der damit angekündigten Zahlungen ist bisher tatsächlich geleistet worden, sagen Hilfsorganisationen. Auf dem G8-Gipfel von Heiligendamm wurde ein 45 Milliarden Euro schweres Programm zum Kampf gegen AIDS, Malaria und Tuberkulose aufgelegt, dessen Laufzeit bis 2015 reicht.Die G192 verschaffen sich Gehör.

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) ist Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung

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