Wenn Karlsruhe dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) die Verfassungstauglichkeit abspricht, kann der dauerhafte Rettungsschirm getrost aufgegeben und entsorgt werden. Der deutsche Anteil am ESM mit 27 Prozent der bisher vorgesehenen Einlagen von 700 Milliarden Euro ist einfach zu groß, als dass sich darauf verzichten ließe.
Allein diese Aussichten erlauben nicht den geringsten Zweifel an der politischen Tragweite der heute vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelten Streitfälle. Was von der Euro-Rettung übrig bleibt, kommt der neue Krisenfonds nicht zustande, lässt sich schwer sagen. Viel kann es nicht sein – muss es aber. Die nächsten Bedürftigen stehen bereits auf der Schwelle zum Rettungscontainer. 30 Milliarden Euro für Spanien sind so gut wie ausgehandelt, wenn man der gestrigen Sitzung der EU-Finanzminister glauben darf. Doch auch Zypern muss alimentiert werden. Möglicherweise kann Slowenien ein Defizit von über zehn Milliarden Euro nur durch externe Hilfen überbrücken. Man muss nicht soweit gehen, den Karlsruher Richtern zu attestieren – und das wäre keine Übertreibung und schon gar keine Unterstellung –, sie würden über Bestand oder Auflösung der Eurozone befinden. Aber die Signal- und Symbolwirkung ihres Votums übertrifft die anderer Entscheidungen zur europäischen Integration.
Schließlich gehörte Deutschland in der Person seiner Kanzlerin zu denen, die energisch einem Junktim und den sich daraus ergebenden Konsequenzen das Wort geredet haben. Die Essenz der vehementen Fürsprache lässt sich in zwei Sätzen auf den Punkt bringen: Ohne Fiskalpakt kann es auf Dauer keine Euro-Rettung geben, an der sich alle Euroländer engagiert beteiligen. Scheitert aber der Euro, dann scheitert Europa, zumindest das bisher in der Eurozone versammelte.
Ein klärendes Urteil
Angela Merkel wäre bei einem negativen Bescheid aus Karlsruhe politisch so schwer angeschlagen, dass sich eine dominante Mediation der Euro- und Finanzkrise erledigt hätte – nur wer sollte sie ersetzen?
Mit einem Wort, den Verfassungsrichtern ist zu viel aufgebürdet, als dass sie vollkommen unbeeinflusst von den Folgen ihres Urteils verhandeln können. Das stellt nicht die Unabhängigkeit eines Verfassungsorgans und ihre Entscheidung in Frage, doch ein klärendes Votum, das über Fiskalpakt und ESM hinausgeht, wäre wünschenswert. Es könnte im Auftrag an Exekutive und Legislative bestehen, einem Verfassungsreferendum in Deutschland näher zu treten. Solches wäre geboten, würde das deutsche Grundgesetz europäischen Bedürfnissen angepasst. Leider sind diese Bedürfnisse momentan eher Unwägbarkeiten und alles andere als zukunftssicher. Auch erscheint der Zustand der Europäischen Union zu erschöpft und fragil fürs plebiszitäre Befragen. Was geschieht, wenn Europa in Deutschland keine Mehrheit findet?
Kommentare 8
Ich danke Lutz Herden für die klärenden Worte! Jetzt machen sich die demokratischen Defizite der EU-Konstruktion mit aller Dringlichkeit deutlich. Dies gilt sowohl auf nationaler wie auf transnationaler Ebene.
Der von Michael Jäger neulich eingebrachte Gedanke eines europäischen Verfassungskonvents sollte breit diskutiert werden. Die Initiative dazu müsste von jenen politischen Kräften ergriffen werden, welche die neoliberale Verengung des europäischen Projekts kritisieren - ohne damit in einen neuen Nationalismus zurückfallen zu wollen. (Das ist nämlich die Kehrheit der heutigen Politik von Merkel & Co., dass die D-Mark-Nostalgiker und Reaktionäre aller Art Aufwind erhalten.)
Es sollte "Kehrseite" heissen - sorry!
Ich hoffe …
… daß die ‚Verfassungsrichter’ sich dem Geist des Artikels 20 GG verantwortlich und verpflichtet fühlen und heute mal so tun, als sei das Grundgesetz tatsächlich eine Verfassung! Ich hoffe auch, daß die Richter rechtsstaatliche Gewaltenteilung ausreichend zu würdigen wissen.
Ich hoffe das auch deshalb, weil ich große Sorge habe, gerade vor angelsächsischem Einfluß; denn das Grundgesetz ist keine Verfassung und ist niemals vom Volk legitimiert worden.
Es ist nach wie vor lediglich Ordnungsrecht der Alliierten, uber welches Deutschland seit Kriegsende als (Profitcenter), nämlich als Verwaltung- und Wirtschaftseinheit gesteuert wird.
Ansonsten: adé Zivilisation!
Ein solchen Konvent gab es schon vor der Erarbeitung des Verfassungsvertrages, der 2005 an den ablehnenden Plebisziten in Frankreich und in den Niederlanden scheiterte. Man sollte sich daher genau überlegen, was diesmal anders gemacht werden sollte. Der Begriff "Konvent von unten" sagt noch nicht viel.
Ich halte den EMS nicht mit unserem Grundgesetz für vereinbar, bin deswegen sehr gespannt, wie das Verfassungsgericht urteilen wird. Der EMS nicht nur nicht "alternativlos", sondern zementiert eine grottenschlechte Politik. Wäre es nicht angebracht, die Konstruktion des Euro vom Kopf auf die FüÃe zu stellen, indem das Geldschöpfungsprivileg allein in die Hände der EZB gegeben wird, indem die Staaten zinslos direkt von der EZB finanziert werden, ein Vollreservesystem geschafft wird? Wäre es nicht an der Zeit, dass das Bankenwesen so aufgestellt wird, dass es den Volkswirtschaften dient, statt sie auszuplündern, indem das Bankwesen in Zahlungsverkehrs-, Kredit- und Investmentbanken aufgeteilt wird, es keine Bank mehr gibt, die "too big to fail" ist? Wie wäre es, wenn die Kapitaleinkommen mindestens genauso besteuert und mit Zwangsabgaben belegt werden, wie die Arbeitseinkommen? LäÃt sich Privatbesitz an Grund- und Boden mit Demokratie vereinbaren?
Lieber Lutz Herden! Diese Erfahrung spricht doch dafür, die Bürgerinnen und Bürger der EU-Staaten von Anfang an in die Formulierung einer besseren Verfassung für Europa einzubeziehen - und diese Angelegenheit nicht der "politischen Klasse" alleine zu überlassen. Die Frage ist, wer dafür glaubwürdig die Initiative ergreifen kann. Michael Jäger meint, dies solle die europäische Linke tun. Ich glaube, dass ein solcher Vorstoss gesellschaftlich breiter abgestützt werden müsste. Wer könnte ein solches Projekt befördern? Ich meine, dass der Freitag sich dieser Idee annehmen sollte! Herzliche Grüsse, Kurt Seifert
Die schwarz/Gelben machen ziemlichen Druck auf die Richter. Zum Glück lassen die sich davon nicht beeirren. Zu wichtig ist dieses Thema. Und warum soll ich arbeiten, damit die Banken mein Geld verspekulieren dürfen?? Und warum werden nicht die Verursachen zur Rechenschaft gezogen, sondern nur der abhängig Beschäftigten ??? Fragen über Fragen. Lasst euch Zeit in Karlsruhe. Die Bänker waren nur auf unser Geld. Lasst sie in ihrem eigenen Fett schmoren.
@Lutz HerdenDer Autor reiht sich, trotz ansatzweise fundiertem Urteil, unverdrossen in die Reihen des Panikpersonals ein, das noch zu Lebzeiten des Euro per Panikorchester Grabgesänge auf den Bestand der EU anstimmen will, um Druck auf das Bundesverfassungsgericht (BVG) zu ganz anderen Zwecken denn der EU aufzubauen.Dabei geht verloren, dass das BVG gar nicht über den Bestand des Fiskalpaktes, den ESM als unveräußerlichen Bestandteil des historischen Subjekts, den Euro, zu entscheiden hat, sondern den Mangel der jeweiliigen Regierungen und Oppositionen, ihre jeweiligen Positionen seit den Maastrichter Verträgen von 1992 zum Aufbau und der Entwicklung des Euro und der EU dem bundesdeutschen Wahlvolk zu kommunizieren, in, nacheilend, urteilender Wahrnehmung zu bewerten hatDer Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) , samt Fiskalpakt sind keine Instrumente, die aus allen Wolken des Weltwährungshimmels fielen, sondern die national in den einzelnen Ländern der EU längst, wie in Ländern anderer Währuingszonen auch, haushaltpolitische Praxis sind.Nicht Europa ist erschöpft, sondern die bisherige Praxis der Politik der Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Medien in den einzelen EU- Ländern, den Aufbau und Bestand des Euro und der EU fadenscheinig bis hirnrrissig national orientiert zu kommunizieren, wird durch das kommende BVG- Urteil endgültig über die Halskrause zu Gunsten der global aufgestellten Finanzaristokratie ausgepowert, erschöpft sein.tschiaoJP