Seit 2004 gehört Viktor Orbáns Ungarischer Bürgerbund (FIDESZ) zum EU-Parlament (EP). Seit 2010 ist der Parteiführer in Budapest Regierungschef und ließ selten Zweifel daran, dass sein Verständnis von Demokratie und Rechtsstaat nicht dem entspricht, was die EU gern ins europäische Schaufenster stellt. Warum dauert es dann fast ein Jahrzehnt, daraus Konsequenzen zu ziehen?
Anders gefragt, weshalb wird Orbán ausgerechnet jetzt gemaßregelt und das nach EU-Standards unbotmäßige Verhalten seiner Regierung mit einem Rechtsstaatsverfahren geahndet, für das am 12. September 448 EU-Parlamentarier gestimmt haben, 197 dagegen, 48 enthielten sich. Dass ein Bericht der niederländischen EU-Abgeordneten Judith Sargentini, in dem von einer „systemrelevanten Bedrohung" der Demokratie in Ungarn die Rede ist, erst seit kurzem vorliegt, kann der Grund nicht sein. Wie Premier Orbán mit seinem Regierungsmandat umgeht, weiß man spätestens seit der 2011 verabschiedeten neuen Verfassung Ungarns, den später beschlossenen Medien- und Einwanderungsgesetzen, der Flüchtlingspolitik überhaupt.
Mögliche Spaltung
Offenbar wird vielen EU-Abgeordneten langsam klar, was sie mit der Neuwahl des EU-Parlaments im Mai 2019 erwartet. Rechtsnationale und rechtspopulistische Parteien drängen in einem Maße nach Brüssel bzw. Strasbourg wie nie zuvor in der Geschichte dieser Kammer. Wer ihnen Paroli bieten will, darf nicht Kräfte und Gesinnungen in den eigenen Reihen dulden, die nach außen hin verdammt werden.
Folglich wird sogar in Kauf genommen, dass die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) an innerem Konsens und Zusammenhalt verliert. Aus ihren Reihen entschieden sich nur 114 Parlamentarier für das Rechtsstaatsverfahren gegen Ungarn, 85 waren dagegen oder enthielten sich der Stimme. Damit deutet sich eine Flurbereinigung im Parteiengefüge des Parlaments an, die vorwegnimmt, womit nach der Europawahl zu rechnen ist. Können die nationalistischen, EU-skeptischen Parteien von der polnischen PiS über die Schweden-Demokraten, die Wahren Finnen bis zur AfD und der FPÖ im Mai nächsten Jahres die ihnen prophezeiten Gewinne einfahren, winkt ihnen womöglich Zulauf aus der EVP-Fraktion. Dafür käme die Orbán-Partei FIDESZ ebenso in Betracht wie Forza Italia, deren EP-Abgeordnete das Strafverfahren gegen Ungarn verwarfen, die konservativen Les Républicains aus Frankreich oder diverse Parteien aus Osteuropa wie die Kroatische Bauernpartei oder der Vaterlandsbund aus Litauen.
Die nach 2019 mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr im EU-Parlament vertreten britischen Konservativen hatten sich bereits in der laufenden Legislaturperiode der Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR) angeschlossen. Sie standen damit an der Seite von Schweden-Demokraten, PiS oder rechtsnationaler Dänischer Volkspartei (DF). Womöglich war das schon ein Vorgriff auf eine mögliche Spaltung der EVP-Fraktion, die nach der EP-Wahl in einen rechtskonservativen mit den EU-Skeptikern sympathisierenden Strang und einen zentristisch christdemokratischen Flügel zerfallen könnte.
Damit wäre es nicht nur um die Dominanz der EVP im Europaparlament (derzeit 219 Mandate) geschehen, auch auf andere EU-Gremien würde sich eine mögliche Erosion auswirken. Gegenwärtig kommen allein 14 Mitglieder der EU-Kommission aus der EVP, darunter nicht zuletzt Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.
Kleinliche Rache
Viktor Orbán hat bei seinem Auftritt in Strasbourg vor der bewussten Abstimmung argumentiert, man wolle sein Land dafür bestrafen, dass es sich dagegen verwahre, ein Einwanderungsland zu sein, und sich auf die ohnehin dissonante Flüchtlingspolitik der EU nicht einlasse. Deshalb sei man kleinlichen Racheakten migrationsfreundlicher EU-Politiker ausgesetzt.
Was davon auch immer zu halten ist – Ungarns Premier hat damit benannt, woran sich im EP künftig die Geister scheiden werden – die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik. Wie die Mitte-Rechtsparteien in den 27 EU-Ländern mit der rechtspopulistischen, teilweise rechtsradikalen Herausforderung umgehen, das könnte für die Legislaturperiode 2019 – 2024 mehr denn je auf das Europaparlament übergreifen. Und die EVP wird davon womöglich am wenigsten verschont bleiben. Mit Stimmenverlusten müssen die europäischen Christdemokraten im Mai 2019 vermutlich sowieso rechnen. Steht damit auch die seit 1976 bestehende Parteien-Assoziation zur Disposition? Wenn ja, würde auch das EP seinen bisherigen Charakter verlieren. Flurbereinigung hätte dann wenig mit Landschaftspflege zu tun.
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