Das Kuckucksei

Rechte In der EU gärt längst mehr als ein Interessenkonflikt. Die polnische PiS und Ungarns Fidesz-Partei haben einen Hang zur Totalopposition
Ausgabe 10/2021
Noch ist offen, was auf die Drohung Viktor Orbáns vom Brüsseler Gipfel im Dezember folgt, er werde notfalls die Ratifizierung von Teilen des EU-Haushaltsgesetzes im ungarischen Parlament verhindern
Noch ist offen, was auf die Drohung Viktor Orbáns vom Brüsseler Gipfel im Dezember folgt, er werde notfalls die Ratifizierung von Teilen des EU-Haushaltsgesetzes im ungarischen Parlament verhindern

Foto: Attila Kisbenedek/AFP/Getty Images

Noch muss die Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament (EP) keinen Aderlass verkraften. Doch sie schrumpft, wenn die Abgeordneten der ungarischen Fidesz-Partei das Weite suchen. Statt der bisher 187 bleiben 175 Mandate. Da bereits bei der Europawahl 2019 ein Verlust von 34 Sitzen eintrat, erscheint die Frage nicht abwegig, wie unangefochten die Diskursdominanz von Christdemokraten und Konservativen in der EU-Legislative noch ist. Sollte sich die Fidesz-Gruppe der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) anschließen, käme die mit den Rechtsnationalisten und Rechtsradikalen von Identität und Demokratie (ID) auf 137 Abgeordnete. Damit läge ein brisanter Schulterschluss in der Luft. Co-Fraktionschef der EKR und Wortführer der Nationalkonservativen im EP-Plenum ist Ryszard Legutko aus der polnische Regierungspartei PiS, die in der EVP so wenig gelitten ist wie die Fidesz von Ungarns Premier Orbán. Und sage niemand, dies könne nicht auf andere EU-Instanzen wie den Europäischen Rat durchschlagen.

Vielmehr wird fortgeschrieben, was auf allen Ebenen der Staatenassoziation unbestreitbar ist. Mit dem Streit über Normen des Rechtsstaates und Strafen für Abtrünnige gärt mehr als ein Interessenkonflikt, den ein EU-Gipfel durch Kompromisse oder finanzielle Wohltaten für Abweichler auflösen könnte. Polen und Ungarn, die PiS wie die Fidesz verkörpern einen Hang zur Totalopposition. Sie wenden sich grundsätzlich gegen das europäische Projekt, ohne darauf zu verzichten, es dort weiter auszukosten, wo ihnen das zum Vorteil gereicht. Sie haben die mit dem Brexit entstandene Drohkulisse nicht im Nacken, sondern als Halt im Rücken. So kann man sich mit signifikanten Minderheitsvoten Geltung verschaffen. Noch ist offen, was auf die Drohung Viktor Orbáns vom Brüsseler Gipfel im Dezember folgt, er werde notfalls die Ratifizierung von Teilen des EU-Haushaltsgesetzes im ungarischen Parlament verhindern. Käme es dazu, könnten sich Zahlungen aus dem Corona-Rettungsfonds der EU erheblich verzögern.

Es ist eine der vielen in der EU nicht eben häufig bemühten Wahrheiten: Als es 2004 die Aufnahme von acht mittelosteuropäischen Transformationsstaaten gab, wurden Ungarn und Polen von Mitte-links-Regierungen geführt, deren Europa-Affinität eigener Legitimation diente. Sowohl die polnische Linksallianz SLD als auch die ungarischen Sozialisten der MSZP standen im Geruch postkommunistischer Brauchtumspflege. Um diesem Stigma zu entkommen, erschien ein Anschluss an die EU ein probater Weg. Auf der Agenda stand das „Ankommen in Europa“ ohnehin. Nur sind die supranationalen Trendsetter von einst längst zugunsten der Neonationalisten von heute aus der PiS und Fidesz abgewählt. EU-Traditionalisten wie die Kernparteien der EVP – CDU/CSU, der niederländische CDA, Österreichs ÖVP oder Frankreichs Les Républicains – reagieren darauf mit Sanktionen und entfachen so erst recht die Lust der Dissidenten auf subversive Gegenwehr.

Die als Vollendung der Epochenwende von 1990 deklarierte EU-Osterweiterung, die ein vereint handelndes Europa in Aussicht stellte, erweist sich einmal mehr als Autosuggestion. Es blieb ein Anspruch, dem die Realitäten davonliefen. Die EU wird dadurch nicht gleich zerfallen, aber mehr Raum für diverse politische Kulturen bieten müssen, die eigenständige Wertegemeinschaften ohne einen verordneten EU-Kanon sein wollen.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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