Das Leben ist ein flackerndes Licht

Genozid und Irrsinn Vor 30 Jahren wurde in Kambodscha das Pol-Pot-Regime gestürzt

Über der Vorstadt von Phnom Penh liegt die Glut der Morgensonne, und im Bus kocht die Luft, als würden Flammen die Gesichter streifen. Unsere kleine Journalisten-Gruppe ist gegen vier Uhr früh mit einer sowjetischen AN-24 der Vietnam Air in Saigon abgeflogen, eine Stunde später landen wir auf dem von Flugzeugwracks gesäumten Flughafen Pochentong und sind nun unterwegs in die Stadt. Wir sehen aus dem Busfenster, dessen Scheiben schmutzig sind und schwitzen wie wir. Draußen zieht die Banlieue vorbei, vollkommen regungslos und totenstill, als wollte sie sich ganz verleugnen.

Es ist der 20. Januar 1979, auf die gleichen Bilder einer erstarrten, leblosen Stadt, die wir sehen, trafen die vietnamesischen Soldaten knapp zwei Wochen vor uns, als sie am 7. Januar 1979 mit ihren Panzern Phnom Penh kampflos einnahmen. Die Regierung des Demokratischen Kampuchea war geflohen, hinein in die Urwälder von Battambang und Siam Reap im Norden. Die Khmer Rouge zogen sich dorthin zurück, woher sie einst kamen. Und hinterließen diese Geisterstadt.

In nur einem Jahrzehnt, zwischen 1969 und 1979, herrschten in Phnom Penh nacheinander ein smarter Prinz, ein stoischer General und ein lächelnder Massenmörder. Jetzt regieren nur noch die Ratten, die übers Trottoir schleichen, katzengroß, fett und träge. Es gibt niemanden, der sie stört. Phnom Penh ist leer, menschenleer. Straßen, Boulevards, Plätze, Bistros, Häuser, Markthallen, Hotels, Parks, Bahnsteige, Villen, Hütten, Königspaläste, Königsgärten sind allein dazu bestimmt, urbane Verpackung des Nichts zu sein, auch wenn jeder Pflasterstein schwört: Es ist nicht wahr!

Ich stehe auf dem Boulevard Monivong, starre tausend Meter teergraue Piste herauf und herunter, höre das Hupen der Moped-Karawane, das Singen der Rikscha-Fahrer, das Klingeln der Garküchen. Ich rieche die über allem schwebende Dunstglocke aus Ruß, Dreck und Leben - es kann gar nicht anders sein als drüben in Saigon. Ist es aber.

Gelegentlich knarren Fensterflügel im Wind. Wir drehen mit einer 16-Millimeter-Arriflex Kleiderberge auf dem Trottoir, geborstene Blumenkübel, das offene Scherengitter vor einem Atelier mit verkohlten Autoreifen im Inneren. Wir finden ein weiteres Motiv: den leeren Schaukelstuhl auf dem Balkon darüber, Bel Etage mit eingerollter Marquise und ockergelber Fassade. Savoir vivre galt viel in Phnom Penh, der feinen Metropole, die sich nur mit Nizza messen und mehr als eine Tee-Zeremonie distinguierter sein wollte als das laute, aggressive Saigon eine Flugstunde weiter östlich.

Im Januar 1979 haben solche Vergleiche keinen Sinn mehr. Die Lust auf Erinnerung vergeht einem. Sie versinkt in der Betäubung, die von einer mumifizierten Stadt ausgeht, in der eine Doktrin zum Irrsinn wurde, der Irrsinn zur materiellen Gewalt. Und die wiederum zum Genozid. Zu verantworten hat ihn ein Regime, das heute - im Rückblick - die schweren Attribute wie Aktenzeichen der Geschichte auf sich zieht: ultramaoistisch, linksfaschistisch, steinzeitkommunistisch, barbarisch oder einfach nur unglaublich.

Wann begann es?

Sehr viel früher als am 17. April 1975. Doch kann dieses Datum nicht aussparen, wer vom Schicksal Phnom Penhs erzählen will. Die Khmer Rouge erobern an diesem Tag mit der Hauptstadt der damaligen Republik Khmer die letzte Wagenburg des mit den Amerikanern verbündeten Lon-Nol-Regimes. Von Panzergräben und Stacheldraht umgeben, zittern über zwei Millionen Menschen um ihr Leben. Mehr als zwei Drittel davon sind Flüchtlinge, die dem Indochina-Krieg auf kambodschanischem Boden zu entkommen suchten und in dieser Stadt, wie sie meinten, Zuflucht fanden.

Nun scheint alles überstanden, halb Phnom Penh steht am 17. April 1975 am Boulevard Monivong und winkt den einziehenden Bauernsoldaten der Khmer Rouge freudig zu. Die Sieger werden das Land vom Krieg befreien, hoffen alle, aber die Sieger sind Sieger und keine Befreier. Sie fluten die Stadt mit erbarmungsloser Gründlichkeit. In nur wenigen Tagen werden sämtliche Bewohner hinaus getrieben, endlose Kolonnen ziehen ins Ungewisse, dazu ausersehen, künftig in Volkskommunen zu leben und Reis zu ernten. Ein "Neuvolk" der Städter, das vom "Altvolk" der Bauern lernen soll, was es heißt, ein "authentischer Khmer" zu sein.

Und was man als Lehrer oder Ingenieur verdient hat: einen Schlag mit der Hacke auf den Hinterkopf. "Untauglicher Lehrer, untauglicher Ingenieur", rufen die jungen Wächter dem Verblutenden hinterher, dessen Körper im Schlamm versinkt. Das Leben ist ein flackerndes Licht, haben die Khmer-Könige vor mehr als tausend Jahren immer wieder als Inschrift an den Tempelanlagen von Angkor Wat lesen wollen. Und sie bekamen ihren Willen.

Warum treiben die Khmer Rouge zwischen 1975 und 1978 zwei Millionen ihrer Landsleute in die Killing Fields? Es gibt keine Begründung, keinen Generalplan, kein Programm des Völkermords. Es existiert seit Anfang 1976 eine Verfassung der Khmer Rouge, die den Weg in die "Zwangskommune Kambodscha" zum "Aufbau und Aufbruch eines Demokratischen Kampuchea" verklärt.

Sehr viel ergiebiger, um die Rationalität des Irrationalen zu begreifen, ist der Blick in eine Dissertation, die am 13. April 1959 von einem jungen Kambodschaner an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Sorbonne eingereicht wird. Der Kandidat - er heißt Khieu Samphan - lebt zu diesem Zeitpunkt zusammen mit anderen jungen Kambodschanern im Quartier Latin. Die Gruppe gehört als Khmer-Fraktion zur Kommunistischen Partei in Frankreich, bis 1954/55 die Kolonialmacht in Indochina. Erhitzt vom Fieber der Patrioten schreiben die jungen Männer schon 1952 an den etwa gleichaltrigen König Norodom Sihanouk in ihrer Heimat: "Wir sind die einzigen authentischen Vertreter des kambodschanischen Volkes, betrachten Sie sich daher als abgesetzt!" Es unterschreibt neben Khieu Samphan auch ein gewisser Saloth Sar, der sich Jahre später Pol Pot nennen wird.

Besagte Dissertation trägt den Titel L´Economie du Cambogde et ses Problèmes d´Industrialisation. Der Autor beklagt darin eine Zweiteilung seines Landes, es gäbe eine rückständige Landwirtschaft und eben solche Industrie. Beide seien vom Metropolenwahn Phnom Penhs versklavt, dessen Schmarotzertum das Land auszehre. Der Lebensstandard der urbanen Eliten führe zu einem auf Luxusgüter getrimmten Außenhandel, den eine verarmte Bauernschaft bezahle. Khieus Fazit, Kambodscha muss autark werden von aller Weltökonomie, Kambodscha muss auf Agrarproduktion setzen, der hochmütigen Dekadenz abschwören. Man muss alle Klassen auflösen, die nicht mit der Landwirtschaft verbunden sind, deren ökonomische Existenz jedoch darauf aufbaut.

Die Idee ist da. Die Gewalt, ihr zu dienen, noch nicht. Die zornigen Khmer aus dem Quartier Latin kehren Anfang der sechziger Jahre als unbescholtene Bürger nach Phnom Penh zurück und arbeiten zumeist, auch Pol Pot, als Lehrer an den Lyzeen der Stadt. Nur einer nicht. Auf einen fällt das Auge des Patriarchen. Prinz Norodom Sihanouk liebt die Aura des Revolutionären und will deshalb einen Revolutionär in seiner Regierung sehen: Ende 1962 steigt Khieu Samphan im Alter von 31 Jahren zum Wirtschaftsminister auf. Er muss scheitern. Sein Puritanismus verträgt sich nicht mit dem Eskapismus des Prinzen, nach acht Monaten ist es mit der Ministerwürde vorbei. Jahre später, während einer buddhistischen Zeremonie, eskaliert der Zwist. Sihanouk beschuldigt seinen Ex-Minister, Anstifter einer Bauernverschwörung zu sein, lässt ihn verhaften und zum Tode verurteilen. Khieu Samphan sei exekutiert worden, meldet Radio Peking Ende 1967. Das Leben ist ein flackerndes Licht.

Nom de Guerre

In Wirklichkeit flieht der gefallene Günstling in den Dschungel nach Norden, zurück zu den Freunden aus dem Quartier Latin, die inzwischen den Klassenkampf nicht mehr mit Manifesten, sondern mit der Waffe führen, inspiriert von der Lehre Mao Zedongs, wie sie sagen. Dennoch bilden die Rebellen keine Fünfte Kolonne der Chinesen. Anfangs halten die Pol Pots debütierende Guerilla mit den schwarz gesprenkelten Halstüchern für eine Totgeburt. Zu klein, zu nationalistisch, zu fanatisch.

1951 bereits hat sich die 1930 gegründete KP Indochinas aufgelöst, auf dass für Vietnam, Laos und Kambodscha nationale Ableger entstehen. Für die Volkspartei (Pracheachon), den KPI-Nachfolger in Kambodscha, heißt das, neben Norodom Sihanouk einen Platz im politischen Spektrum zu finden. Der Prinz - er versteht sich als Schutzpatron der 1955 errungenen Unabhängigkeit - gibt mit seiner Sozialistisch-Königlichen Khmer-Vereinigung (Sangkum) den aufgeklärten Souverän und rechnet es sich als Verdienst an, mit viel List und Geschick sein Land aus dem Krieg vor der eigenen Haustür, im Süden Vietnams, heraus zu halten. Wozu also braucht das Land eine Opposition? Noch dazu eine kommunistische?

So fristet die Volkspartei ein Schattendasein, als sich 21 Mitglieder am 27. September 1960 auf dem Gelände des Zentralbahnhofs von Phnom Penh zu ihrem II. Parteitag treffen und debattieren, ob nach chinesischem Vorbild der Volkskrieg gegen das saturierte Sihanouk-Regime in die Dörfer und von dort in die Städte zu tragen sei.

17 Jahre später, im Oktober 1977, während eines Staatsbesuches in Peking, verkündet Pol Pot - als Bruder Nr. 1 inzwischen Führer des Demokratisches Kampuchea: Damals, im September 1960, sei in Phnom Penh die "ruhmreiche Kommunistische Partei Kambodschas" gegründet worden. Eine Lüge, wie jeder weiß, der die Parteigeschichte kennt. Eine Verzerrung der Ereignisse. Denn an jenem Septembertag kann sich die maoistische Fraktion mit ihrer Obsession für den Klassenkampf im Maquis (noch) nicht durchsetzen - das gelingt ihr erst nach einem tödlichen Anschlag auf Generalsekretär Touch Samout im August 1962.

Danach aber ist es soweit, ein Jahr später operieren erste Guerilla-Einheiten in den Nordwestprovinzen Battambang und Siam Reap. Als sie zusammen mit der Bauernbevölkerung "revolutionäre Basen" proklamieren, verpasst ihnen Sihanouk einen Nom de Guerre, der voller Hohn sein soll, tatsächlich aber identitätsstiftend wirkt. Er nennt sie Khmer Rouge. Besser lässt sich das Amalgam aus maoistischer Utopie und patriotischem Furor kaum beschreiben.

Über Nacht

Am 18. März 1970 verfällt das Gottkönigtum des Norodom Sihanouk an nur einem Tag. Der strahlende Herrscher hat auf einer seiner überlangen Auslandsreisen die Warnungen der Berater vor dem heraufziehenden Unheil in den Wind geschlagen und die Loyalität seines Premiers Lon Nol überschätzt, der das Offizierskorps der Nationalarmee hinter sich weiß. Sein Staatsstreich vom 18. März 1970 hat nicht nur den Segen des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon und seines Sicherheitsberaters Kissinger. Der Putsch ist der Vollzug ihres Willens, in Kambodscha militärisch Fuß zu fassen. Über Nacht wird das Land zum Kriegsschauplatz. Wochenlang schweben die Bombenteppiche der B 52 auf die südöstlichen Grenzprovinzen Svay Rieng und Prey Veng herab. Der Untergang einer letzten Bastion der Neutralität in Indochina wird besiegelt und ein Staat geschleift, der sich davon nie mehr erholen soll.

In dieser Lage gibt es nur eine bewaffnete Kraft, die zum Widerstand gegen Lon Nol fähig ist. Sihanouk beweist seine erprobte Wendigkeit, die zu Todfeinden erklärten Khmer Rouge werden - gleichfalls über Nacht - zu "lieben Brüdern und Schwestern". Der Krieg ist ihre Chance, der geschlagene Prinz Kronzeuge ihres Aufstiegs, der chinesische Ministerpräsident Tschou Enlai ein mächtiger Pate, der Geld und Waffen verteilt. Die Khmer Rouge - zu klein, zu nationalistisch, zu fanatisch? Aus der Guerilla werden binnen weniger Monate "revolutionäre Streitkräfte", die schnell an Boden gewinnen, zumal Lon Nol bald ohne die US-Armee auskommen muss, die nach dem Pariser Vietnam-Abkommen vom Januar 1973 ihre Kampftruppen aus Indochina abziehen muss. Wann Phnom Penh fällt, ist Ende 1974 nur noch eine Frage der Zeit. Dass die Stadt fallen wird, wie nach dem 17. April 1975 geschehen, haben die Führer der Angkar* längst beschlossen: Neben Pol Pot auch Khieu Samphan.

Die Kühltruhe

Die Fahrt für uns Journalisten durch Phnom Penh an jenem 20. Januar 1979 endet im Hotel Royal, das einmal für seine Teepartys berühmt war. Messieurs, le déjeuner, rufen die vietnamesischen Begleiter, vorher aber wollen sie uns noch etwas zeigen. Wir gehen im Gänsemarsch durch schmutzige Gänge, bis wir die Hotelküche erreichen und vor einer Kühltruhe stehen. Noch steht uns der Besuch im ehemaligen Straflager Toul Sleng bevor, der Anblick eiserner Bettgestelle mit den Metallfesseln und den großen Blutlachen darunter und einem Geruch, der tagelang in den Sachen und in der Nase bleibt. Vorerst aber sehen wir nur diese Kühltruhe. Randvoll soll sie gewesen sein, hören wir, als die vietnamesischen Soldaten am 7. Januar das Hotel Royal erreichten. Im Garten, gleich am Swimmingpool, habe man die Leichen verbrannt. Das Leben ist ein flackerndes Licht.

(*) Zwischen 1975 und 1978 bezeichnet sich die Pol-Pot-Partei nur noch als Angkar, aus dem Khmer übersetzt: die Organisation.

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