Es ist wohl kaum Seelenverwandtschaft, wenn Nikolai Patruschew ebenso wie Scheich Hamad Bin Khalifa den heftigen Ausschlag am syrischen Krisenbarometer fest im Blick hält. Der eine ist Sekretär des Nationalen Sicherheitsrates in Moskau, der andere Emir von Katar. Beide reden über ein Eingreifen von außen – Patruschew warnt davor, der Emir will es. Was läge näher, als zu fragen, was vom libyschen Drehbuch nachgespielt werden könnte, sollte es die syrische Version geben? Würde der Westen auch hier den Luftraum sperren, um Präsident Bashar al-Assad zu isolieren und den Gebrauch militärischer Mittel zu legitimieren?
Erneut ließe sich auf das Prinzip der Schutzverantwortung (Responsibility to Protect) zurückgreifen. Dies umso mehr
umso mehr, nachdem die als konfliktentschärfende Maßnahme gedachte Beobachtermission der Arabischen Liga gescheitert ist. Die Theorie, dass es erlaubt sei, in von Unruhen und schweren Menschenrechtsverletzungen gezeichneten Staaten einen Machtwechsel notfalls durch Intervention von außen zu beschleunigen, konnte nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis in Libyen an Zulauf gewinnen. Schließlich hat sich die NATO am Himmel über Tripolis mit nur minimalem Risiko exponiert, um erfolgreich zu sein. Nach dem anfänglichen Engagement der USA übernahmen Frankreich und Großbritannien die Führung bei der Opération Harmattan bzw. Ellamy – wie der Enthauptungsschlag gegen Gaddafi für die nationalen Stäbe jeweils hieß – fast allein.Sie fände keine GnadeDie Vermutung drängt sich auf, dass im Fall Syrien die Türkei einen ähnlichen Part übernehmen könnte wie Frankreich bei Libyen. Premier Tayyip Erdogan hat laut und vernehmlich mit Assad gebrochen und ihm mit „allen nur erdenklichen Konsequenzen“ gedroht, sollte es in Damaskus kein Einlenken geben. Nikolai Patruschew vermutet, dass Washington und Ankara längst an verschiedenen Varianten eines Flugverbots für Assads Air Force arbeiten. Damit könnten sich die Aufständischen in bestimmten Gebieten ungestört konzentrieren. Erdogan sei viel zu ambitioniert, als dass er sich diesen Nachweis regionaler Macht entgehen ließe.Was auch immer geschieht, so viel scheint sicher: Assads Nationalarmee mit einer Truppenstärke von 400.000 Mann dürfte nicht derart leicht zu zerreiben sein wie Gaddafis Anhang. Das Offizierskorps rekrutiert sich zu 80 bis 90 Prozent aus dem Volk der Alawiten und damit aus einer Minderheit, zu der gerade sechs Prozent (oder eine Million Menschen) der syrischen Bevölkerung zählen. Ihre Clans kommen aus der Bergregion des Dschebel Ansariye. Wenn sie etwas verinnerlicht haben über Jahrhunderte hinweg – die vorchristlichen wie die christlichen –, dann ist es die Kunst des Überlebens als verschworene Gemeinschaft. Das Syrien der Baath-Partei, der Familie Assad, dreier Kriege gegen Israel und eines längst verlorenen panarabischen Furors ist das Werk dieser alawitischen Elite. Sie fände keine Gnade, sollten demnächst mit der rebellierenden sunnitischen Mehrheit die ultrakonservativen Muslim-Brüder aus Hama und Palmyra triumphieren.Noch ist nicht gesühnt, geschweige denn gerächt, was im Februar 1982 geschah, als auf Befehl des Präsidenten Hafez al-Assad (des Vaters von Bashar) mit Hama der Ort eines sunnitischen Aufruhrs geschleift wurde, kaum ein Stein auf dem anderen blieb, mehr als 10.000 Menschen starben. Auf den Tätern von damals lastet bis heute ein Fluch, den nur Blut abwaschen kann – so sehen es die Feinde der Alawiten. Und die wollen kämpfen, um nicht zu sterben. Oder Bashar al-Assad stürzen, um noch einmal zu überleben und das Regime zu retten. Eines sei bei alldem nicht vergessen: Wer Damaskus erobern will, der ist im Begriff, mit dem Assad-Regime einen Verbündeten der Islamischen Republik Iran zu stürzen – der steht mitten im Kräftemessen regionaler Großmächte, zwischen Schiiten und Sunniten. Diese Konfrontation hat an Härte gewonnen, seit der Arabische Frühling über die Gegend zieht.Wer das erste Jahr dieses Umbruchs rekonstruiert, dem wird ein Phänomen nicht verborgen bleiben. Die autoritären Monarchien am Golf erstickten jedes Aufbegehren, die autokratischen Republiken Nordafrikas – Tunesien, Ägypten und Libyen – wurden bis ins Mark erschüttert. Als die dortigen Regime zusammenbrachen, schlug die Stunde einer neuen islamischen Seligkeit und Demut. In die entstehenden Freiräume stieß ein programmatisch nicht unvorbereiteter, politisch erstarkter Islam. Er schien den Willen zu sozialer Emanzipation mehr zu verkörpern als alle säkularen Parteien zusammen. Wenn nun die Muslim-Brüder in Ägypten oder die Ennahda-Partei in Tunesien als Wahlsieger in Regierungsverantwortung stehen, wird sich zeigen, ob sie Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben. Nicht auszuschließen, dass die Staaten-Avantgarde des Wandels weiter an innerer Stabilität und damit regionaler Relevanz verliert.Obamas ProphezeiungUmso mehr werden die sunnitischen-wahhabitischen Regime Saudi-Arabiens, Katars oder der Vereinigten Arabischen Emirate ungestört tun können, was sie für nötig halten, um ihre hegemonialen Ansprüche gegen die schiitische Theokratie im Iran zu behaupten. Was sie antreibt, ist die Furcht vor einer möglichen atomaren Selbstermächtigung Teherans wie auch vor der Hoffart einer schiitischen Alleinherrschaft im Irak, die sich entfaltet, seit die Amerikaner gingen. Es gibt auf diesem Tableau der geopolitischen Neuordnung und konfessionellen Rivalität eine neue, vorerst mehr gefühlte als reale Koalition der Willigen. Sie reicht von Saudi-Arabien und Katar bis zu den USA und ist gerichtet gegen Iran ebenso wie gegen dessen Ritter von der traurigen Gestalt in Damaskus. Warum sollte die zuletzt aus Teheran vernommene Warnung, man werde im Falle neuer Sanktionen die Straße von Hormus blockieren, nicht auch dazu angetan sein, dem syrischen Alliierten Entlastung zu verschaffen? Kreuzfahrer im Orient mussten schon immer auf mehrere Fronten gefasst sein. Der Führung in Teheran wird nicht mit Gleichmut quittieren, ob in Damaskus statt der Alawiten sunnitische Fundamentalisten regieren. Deshalb werden sich die Anhänger eines militärischen Eingreifens gegen das Assad-Regime entscheiden müssen, ob sie einen Konflikt um die Straße von Hormus verkraften.Man denke an eine fast surreal anmutende Prophezeiung des US-Präsidenten aus jüngster Zeit. Barack Obama hoffte wohl, den Irak-Abzug der US-Armee in ein milderes Licht zu tauchen, als er im Dezember erklärte, diese Demission bringe „das Ende eines kriegerischen Jahrzehnts“. Wird mit Syrien der Beweis des Gegenteils angetreten?