Es ist ein Schlag ins Kontor, wie er für SED-Generalsekretär Egon Krenz und seine Entourage verheerender kaum sein kann. Staatssekretär Alexander Schalck-Golodkowski hat sich in der Nacht vom 2. zum 3. Dezember 1989 aus der DDR in den Westen abgesetzt. Aber so genau weiß man das zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht. Es existiert lediglich ein Brief an Werner Eberlein, den Vorsitzenden der Zentralen Parteikontrollkommission und eine Kopie dieses Schreibens, die Hans Modrow erreicht haben soll (was der dementiert), den knapp drei Wochen zuvor von der Volkskammer gewählten neuen Ministerpräsidenten.
In diesem Brief soll gestanden haben, bedroht und geschmäht habe der Verfasser um sein Leben fürchten müssen. Es sei ihm daher nur dieser Ausweg geblieben.
Noch am Vortag hat der Staatssekretär offizielle Verhandlungen in Bonn geführt, jetzt ist sein Aufenthaltsort unbekannt. Schalck hat der DDR-Regierung noch mitgeteilt, welche Finanzdepots im Ausland verfügbar seien, die als „letzte Einsatzreserve bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit des Staates“ in Frage kämen. Mit der müsse gerechnet werden, ist Schalck überzeugt. Der seit 9. November offenen Grenze ist die angeschlagene DDR-Volkswirtschaft auf Dauer nicht gewachsen.
Krenz eröffnet gegen 13.00 Uhr
Besser als durch Schalcks Flucht kann schwerlich dokumentiert werden, wie der SED-Führung die Verhältnisse entglitten sind. Was Egon Krenz an Machtresten und Gefolgschaft noch aufbieten kann, endet an den Ausgängen der SED-Zentralkomitee am Ostberliner Werderschen Markt. Es gibt Parteiaustritte von Hunderttausenden seit dem 40. Jahrestag der DDR – die SED muss im freien Fall Halt finden. Nur wie? Und vor allem wozu?
Die Partei hat gerade erst am 1. Dezember 1989 hinnehmen müssen, dass die DDR-Volkskammer Artikel 1 der DDR-Verfassung, in dem die „Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei“ verankert ist, mit 425 Ja-Stimmen (bei fünf Enthaltungen) streichen ließ. Überdies haben bis zum 20. November alle 15 Ersten SED-Bezirkssekretäre und 13 ihrer Stellvertreter die Funktion verloren; die Nachfolger sind an diesem 3. Dezember 1989 mit ins Haus des Zentralkomitees und zu dessen 12. Tagung gebeten, die von Egon Krenz kurz nach 13.00 Uhr eröffnet wird.
Es gibt nur einen Tagesordnungspunkt, ZK und Politbüro wollen zurücktreten. Begründung: „die Kritik von großen Teilen der Mitgliedschaft, dass die derzeitige Führung der Partei nicht imstande war, entsprechend dem Auftrag der 9. und 10. Tagung des Zentralkomitees das ganze Ausmaß und die Schwere der Verfehlungen von Mitgliedern des ehemaligen Politbüros aufzudecken und daraus die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen“, zitiert das Protokoll der Sitzung den Parteichef.
Angst um die Existenz
Daraus spricht nur ein Teil der Wahrheit. Die Krenz-Führung hat Mandat und Vertrauen auch deshalb verspielt, weil sie die Einberufung eines Sonderparteitages vermeiden wollte, teils hintertrieben hat, stattdessen die Auffassung vertrat, eine Parteikonferenz werde genügen. Als seien in der DDR Staat und Gesellschaft keiner zerstörerischen und kaum mehr lösbaren Krise ausgesetzt.
Offenbar steht im Hintergrund bei vielen führenden Genossen die Furcht, die mit einem außerordentlichen Parteitag verbundene Neuwahl aller Führungsgremien werde von den bisherigen Politbüromitgliedern niemand überstehen. Mutmaßlich eine zutreffende Annahme, die verständlicherweise für Existenzängste sorgt.
Johannes Chemnitzer, zu diesem Zeitpunkt bereits abgewählter 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg, sagt in der kurzen Debatte nach dem Krenz-Antrag: „Für mich wären der Ausschluss aus dem ZK und die daraus folgenden sicheren Konsequenzen der politische Tod.“ Status und Karriere aus allen Angeln gerissen und unwiederbringlich verloren – an diesem 3. Dezember lastet diese Gewissheit wie ein Alptraum über dem Zentralkomitee, aus dem es nur ein böses Erwachen geben kann.
Unter Tränen
Dennoch verblüfft – hält man sich die Ereignisse bis zum 3. Oktober 1990 und den teils selbst verschuldeten, teils von außen herbei geführten Untergang der DDR vor Augen –, dass kein Wort über die seit dem 9. November entstandene Situation fällt, das Ausbluten und den Ausverkauf des Landes, das unabwendbare Näherrücken eines deutschen Gesamtstaates, bei dem es kein Zweifel geben kann, wie er beschaffen sein wird, und wer das Sagen hat. Der Sozialismus auf deutschem Boden hat ausgedient.
Vielmehr steht diese Parteiführung unter dem Eindruck des Zugzwangs, in den sie Bereicherung, Macht- und Amtsmissbrauch von Spitzenkadern gebracht haben. Der Vertrauensverlust, den die Führung bei den Mitgliedern erlitten hat, wird vorzugsweise als „eine moralische Frage“ gesehen, die verunsichert, lähmt und diskreditiert.
Ein dramatischer Höhepunkt ist die Intervention des 86-jährigen Bernhard Quandt, Mitglied des Staatsrates, der unter Tränen ans Mikrofon tritt und verlangt, mit der „Verbrecherbande des alten Politbüros“ abzurechnen: „Wir haben im Staatsrat die Todesstrafe aufgehoben, ich bin dafür, dass wir sie wieder einführen und dass wir die alle standrechtlich erschießen, die unsere Partei in eine solche Schmach gebracht haben, dass die ganze Welt vor einem solchen Skandal steht, den sie noch niemals gesehen hat … Ich sehe vor mir, liebe Genossen, 30.000 Menschen, die sind standrechtlich vom Volksgerichtshof, vom Blutgericht Freisler, verurteilt worden, und 30.000 Menschen sind aufrechten Gangs unters Fallbeil gegangen, und wir stehen als Zentralkomitee einer solchen Verbrecherbande als Gefolgschaft gegenüber ....“
Die Zuhörer sind beeindruckt oder peinlich berührt oder beides. Quandt, geboren 1903 in Rostock, war seit 1920 SPD-Mitglied, wechselte drei Jahre später in die KPD, kam unter der Nazi-Diktatur mehrfach ins KZ (Sachsenhausen/Dachau) und regierte das Land Mecklenburg bis zu dessen Auflösung 1952 als Ministerpräsident, danach ist er jahrelang Erster Sekretär der Bezirksleitung Schwerin.
Mit Quandt stemmt sich einer vehement gegen die Kapitulation, doch wie er das tut, kommt einer Kapitulation gleich und wirft die Frage nach der politischen Zurechnungsfähigkeit auf. Quandt teilt höchst erregt mit, dass er sich geweigert habe, seine persönliche Waffe abzugeben, die er bisher „zur Verteidigung der Revolution genutzt“ habe. Dem jungen Genossen, der sie abholen wollte, habe er gesagt: „Die kriegst du von mir im Zentralkomitee persönlich ausgehändigt.“
Krenz schließt gegen 14.50 Uhr
Gegen 14.30 Uhr wird Krenz darauf hingewiesen, dass die Zeit dränge. Man müsse einen Beschluss fassen. Vor dem Gebäude des Zentralkomitees würden sich Tausende Parteimitglieder sammeln, die bis 15.00 Uhr eine Entscheidung hören wollten. Die Erregung sei hoch.
So schließt Egon Krenz die Tagung gegen 14.50 Uhr, es gibt kein Zentralkomitee kein Politbüro, keinen Generalsekretär mehr, zumindest aber den Hinweis, dass noch am gleichen Tag ein bereits existierender "Arbeitsausschuss" zusammenkommt, der einen Sonderparteitag vorbereitet. Dieses Provisorium des Übergangs leitet Herbert Kroker, neuer 1. Sekretär in Erfurt, dazu gehören unter anderem Ellen Brombacher, Gregor Gysi, Lothar Bisky, Wolfgang Berghofer und Roland Claus. Sie werden sich entschließen, schon für das nächste Wochenende den verzögerten Parteitag einzuberufen, einen ersten Teil zumindest, wie sich zeigen wird.
Am 3. Dezember 1989, gegen 15.00 Uhr nachmittags, ist es mit der alten SED vorbei, eine Zäsur, die mit gut 70 Jahren Parteigeschichte bricht, wie sie mit der KPD-Gründung zum Jahreswechsel 1918/19 begann, als eine Partei ins politische Leben trat, die allerdings von ihren entscheidenden Mentoren Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht anders gedacht war, als sie wurde. Doch das mindert nichts von ihren Verdiensten und Opfern, besonders denen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur gebracht wurden. Darauf wird sich die Nachfolgepartei – erst die SED-PDS, dann die PDS – berufen können, wenn sie denn will.
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