Angela Merkel hat sich um eine neue Abschreckungsdoktrin verdient gemacht. Gerichtet ist sie nicht gegen einen potenziellen Aggressor, ein feindliches Gesellschaftssystem oder Militärbündnis, sondern den Partner aus einem befreundeten Staatenbund: das Euroland Griechenland. Die deutsche Kanzlerin hatte unmittelbar vor der Parlamentswahl am Sonntag Warnungen formuliert, die wie Drohungen klangen und Erpressungen waren. Ihre Botschaft: Sollte sich eine neue Regierung in Athen dazu berufen fühlen, die Sparauflagen aufzukündigen, auszusetzen oder neu verhandeln zu wollen, würden bis auf weiteres die Hilfsgelder gekappt. Anders ausgedrückt, es würde ein Exempel statuiert, das Griechenland vom Euro suspendiert und potenzielle Nachahmer abschreckt. Denn Irland, Portugal, Spanien oder Zypern und Italien könnten schon bald die nächsten Kandidaten sein.
Tsunami der Liquidität
Damit es der Abschreckung nicht an Glaubwürdigkeit fehlte, wollten auch die Notenbanken von Washington bis Tokio für den Ernstfall gerüstet sein. Sollten beim Votum am 17. Juni – im weltökonomisch irrelevanten Griechenland (Anteil an der Weltwirtschaftsleistung: 0,4 Prozent) – 30 Prozent oder mehr für die linke Allianz Syriza stimmen und damit die Finanzmärkte erschüttern, waren Vorkehrungen für einen Tsunami der Liquidität getroffen. Mit Geld und noch mehr Geld Investoren und Spekulanten zu besänftigen, war die Devise. Eine bombastisch anmutende Prävention, zugleich ein irrwitziger Vorgang. Wie fragil und wie unberechenbar ist dieser Finanzkapitalismus, der zum Amoklauf neigt, wenn eine Wahl nicht das gewünschte Ergebnis bringt? Man könnte das als Zeichen für einen fast schon subversiven Überlebenswillen von Demokratie interpretieren: Noch einmal bäumt sie sich auf und lässt die Anleger zittern, die doch sonst ganze Staaten als Geiseln nehmen. Aber ändert das etwas?
Die Griechen bekamen bis zum Wahltag schneidige Ansagen zu hören: Wen ihr wählt, ist eure Sache. Was die von euch gewählte Regierung tut, natürlich nicht. Wollt ihr in der Eurozone bleiben, entscheidet darüber das EU-Krisenmanagement, allen voran Deutschland. Wer wollte ernsthaft behaupten, dies habe etwas mit Demokratie zu tun? Wie kann das Nachdenken über Auswege für eine mental und ökonomisch angeschlagene Gesellschaft wie die griechische durch Tabus verstellt werden: Entweder ihr verhaltet euch so, wie das geboten erscheint – oder ihr fliegt.
Zieht man dieses Umstände der Wahl in Betracht, nötigt es Respekt ab, wie viele Griechen sich nicht einschüchtern ließen und mit ihrer Stimme für Syriza gegen Demütigung und Souveränitätsverzicht votierten. Verglichen mit der Abstimmung vom 6. Mai hat die Allianz von Alexis Tsipras noch einmal über zehn Prozent der Stimmen hinzu gewonnen. Die Nea Dimokratia, die mit ihren 30 Prozent nur knapp vor Syriza liegt, kann das nicht unberücksichtigt lassen. Sie ist bestenfalls ein knapper, und ganz sicher kein überzeugender Sieger und dürfte von einer Atmosphäre der Angst und Verunsicherung mehr profitiert haben als von ihrer Reputation. Kein Wunder, dass Pasok-Chef Venizelos, dessen Partei blamable zwölf Prozent erzielte, zu verstehen gibt, es müssten nun auch andere Parteien in die Verantwortung mit einbezogen werden. Als Vorzeichen für eine stabile Regierung kann das nicht gedeutet werden. Zumal es viele Griechen als Hohn empfinden dürften, wenn mit Nea Dimokratia und Pasok ausgerechnet die Parteien das Land führen wollen, die dessen jetzige Auszehrung zu verantworten haben – beide haben sich seit dem Ende der Militärdiktatur 1974 beim Regieren abgewechselt. Niemand sonst war daran beteiligt.
Eher ein Strafgericht
Von einer Entscheidung über die Zukunft des Landes an diesem 17. Juni war zuletzt viel die Rede. Worin besteht diese Zukunft? In den untauglichen Krisen-Diktaten einer Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds, denen jede ökonomische Rationalität fehlt? Allein, was dem griechischen Haushalt seit Frühjahr 2010 an drakonischen Sparauflagen zugemutet wird, erinnert eher an ein Strafgericht als ein Sanierungsprogramm, das einen Staat in die Lage versetzt, eines Tages wieder mehr alte Schulden begleichen zu können als neue aufnehmen zu müssen. Seit 2009 sind die griechischen Staatsausgaben um sagenhafte 17 Prozent gesunken. Umgerechnet auf die Dimensionen des deutschen Staatshaushalts kommt das einer Kürzung der Primärausgaben um 180 Milliarden Euro gleich – mehr als der Etat des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales im Bundeshaushalt 2011. Mit diesem Raubbau an einer Gesellschaft kann keine Regierung in Athen fortfahren, wer immer sie bilden und führen mag.
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