Es hat nicht nur einen Sinn, sich in diesem Jahr der verhängnisvollen Juli- und Augusttage vor 1914 zu erinnern – es ist notwendig. Besonders wenn dabei jene fatalen Kettenreaktionen und Handlungszwänge ins Gedächtnis gerufen werden, denen man sich einst aussetzte. Nationales Prestigedenken und Bündnispflicht wurden zur strategischen Falle, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Ob in Berlin, Wien, Paris, London, St. Petersburg oder Rom – überall wurde an der Schwelle zum Weltkrieg weniger nach einem Ausweg gesucht, als vielmehr mit dem Risiko spekuliert, ihn zwar nicht zu wollen, aber doch jederzeit führen zu können. Wer wollte schon ein Feigling sein und sich vor unaufhaltsam näherrückender Gefahr ducken, statt ihr zu trotzen? Was kann uns die Apokalypse? Verdient sie kein Hurra?
Es sei nur „einiges Gepolter in Petersburg“ zu vernehmen, das sich auch wieder beruhigen werde, beschied Gottlieb von Jagow, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Mitte Juli 1914 dem deutschen Botschafter in London. Es gab unter deutschen Diplomaten Unbehagen, dass sich das Kaiserreich so kompromisslos an Österreich-Ungarn band, Russland herausforderte und damit die Entente von Franzosen wie Briten gleich mit. Statt zu deeskalieren, galt die Devise: Wenn der Kampf sich bietet, dürfen wir nicht kneifen. Aber jede mentale und politische Mobilmachung schraubt sich irgendwann auf derart lichte Höhen, dass kein Abstieg mehr erlaubt ist. Dann will die Mobilmachung beim Wort genommen sein. Sie darf an Schneid nichts schuldig bleiben.
Historische Vergleiche sind nicht dazu da, als platter Abgleich zwischen damals und heute zu langweilen, aber nützlich um Handlungsmuster bei abgeschlossenen Vorgängen zu erkennen. Der Eskalationsdynamik von 1914 fehlte es an Deeskalationsvermögen oder -willen. Wie ist es damit in diesem Tagen bestellt, da der Westens gegenüber Russland auf Revanche und Strafe setzt? Und die politische Mobilmachung nichts zu wünschen übrig lässt?
Wasser auf die Mühlen
Als seien sie beim Gottesgericht angestellt, werfen die G 7-Staaten den G 8-Partner hinaus. Was als Maßnahme mit Symbolkraft zelebriert wird, ist in Wahrheit ein Eingeständnis: Der Westen igelt sich in seiner Maßlosigkeit ein, kehrt zu sich selbst und den Verhältnissen zurück, in denen er sich augenscheinlich am wohlsten fühlt. Es sind die Gewissheiten und Gewohnheiten der Ära vor 1990 mit ihren Feindbildern, Aggressionen und Affekten. Nicht zufällig hat ein Mann, der bis heute in Deutschland als Figur des historischen Rückzugs und der entideologisierten Einsicht hofiert wird, lange gebraucht, sich als G 8-würdig zu erweisen. Noch 1990 wurde Michail Gorbatschow bei G7-Gipfeln nur als Zaungast geduldet. Danach brauchte man ihn nicht mehr zu laden. Sein Land hatte sich verabschiedet, Russland ersetzte die Sowjetunion
Die bisher verhängten Sanktionen der USA und der EU mögen für Russland kein harter Schlag sein, doch sie sind ein klares Zeichen – Entspannung vorerst unerwünscht. „Nicht Sanktionen sind die Lösung. Vielmehr brauchte man eine vertiefte Kommunikation, um eine Verschärfung der Krise zu vermeiden“, sagt etwa Gleb Pavlovsky, einstiger Spindoktor des Kremls. „Was der Westen unternimmt, wird keinerlei positiven Einfluss auf die russische Politik haben, sondern nur Wasser auf die Mühlen unserer Propaganda gießen.“
Kein Déjà-vu
Es soll und wird wohl zwischen dem Westen und Moskau in nächster Zeit noch konfrontativer zugehen. Darauf drängen nicht zuletzt osteuropäische Pufferstaaten wie Polen, Lettland, Estland und Litauen, in denen man wissen dürfte, dass sich Russland nicht an ihnen vergreifen will. Eben darum wird der Eindruck erweckt, genau das sei der Fall.
Warum nicht in diesem Moment noch einmal Kapital daraus schlagen, Vorposten des Westens im Osten zu sein. Deshalb ging es mit der NATO-Mitgliedschaft 1999 schließlich so schnell und reibungslos vonstatten. Wahrscheinlich geht in Vilnius, Riga oder Tallinn bis heute die Vermutung um, wie bedrohlich dieser Schritt auf Russland wirken musste, und man daher gut daran tut, sich für bedroht zu erklären, ohne es zu sein.
Was da wieder aufscheint, ist die nicht mehr und nicht weniger, als die Bedrohungslüge, der die Sowjetunion während der Kalten Krieges jahrzehntelang ausgesetzt war. Sie diente dem Westen als Vehikel, um die Reihen geschlossen zu halten und beim Aufrüsten – ob geistig oder militärisch – nicht nachzulassen. Was wir jetzt erleben, das ist kein Déjà-vu, sondern eine Renaissance von beeindruckender Zielstrebigkeit. Mit der deutschen Verteidigungsministerin, die mehr NATO-Präsenz an den Ostgrenzen des Bündnisses will, haben sich willfährige Kolporteure bereits gefunden.
Man sollte sich dessen bewusst werden. Augenblicklich geht es um keine episodische Störung der westlichen Beziehungen zu Russland, sondern um einen Wendepunkt, dessen Konsequenzen lange nachwirken. Wer die Krim- und Ukraine-Krise als Katalysator für eine wirkliche Sicherheitspartnerschaft empfiehlt, hält sich an eine Utopie, deren Zeit ablief, bevor sie gekommen ist. Genau das Gegenteil tritt ein und war wohl beabsichtigt. Wieder etabliert sich eine Eskalationsdynamik, deren Bremsmechanismen von untergeordneter Bedeutung oder gar nicht vorhanden sind. Und das "Gepolter" in Moskau wird sich legen?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.