Demokratie unter Vorbehalt

Kommentar Wahlaufschub im Irak

Wie zu erwarten, wird sich bei George Bushs großem Out-of-area-Experiment in Sachen Machtpolitik und Demokratietransfer in diesem Jahr weniger tun, als es zunächst den Anschein hatte. US-Zivilverwalter Bremer benennt militärische Risiken, um den vermeintlichen Königsweg einer Entspannung im Irak nicht betreten zu müssen - Wahlen noch 2004? Kaum denkbar. Worüber er kein Wort verliert, das sind die politischen Risiken, die aus Sicht der Amerikaner den militärischen in nichts nachstehen dürften. Sie ergeben sich aus dem absehbaren Ergebnis eines solchen Urnengangs. Für den jetzigen Provisorischen Regierungsrat - zwei Dutzend Politiker, handverlesen und als Feigenblatt für die US-Administration in Bagdad gedacht - wären die Tage gezählt. Mit dem Mehrheitswillen ihrer Wähler im Rücken könnten die schiitischen Parteien eine Regierung nach ihrem Gusto bilden. Das wäre nicht nur recht und billig, sondern als demokratischer Akt legitim und notwendig, damit die amerikanischen Missionare Tränen der Rührung über ihr zivilisatorisches Meisterstück vergießen können.

Soweit der Mythos, dem Realitäten entbehrlich sind. Letztere besagen nun, einer schiitisch dominierten Regierung wäre zuzutrauen, dass sie die Besatzer so schnell wie möglich aus dem Land haben will, wäre doch ein Wählervotum zu ihren Gunsten zugleich eines für die Rückkehr zur Souveränität. Nichts anderes sagen schiitische Führer wie Großayatollah Sistani, die wissen, wie sehr die Amerikaner mit ihrem Wahlversprechen unter Druck stehen. Denn eine landesweite Abstimmung wäre - von den politischen Konsequenzen abgesehen - nicht nur eine enorme logistische Herausforderung, sondern vor allem ein Sicherheitsproblem. Die US-Truppen müssten zusammen mit ihren Alliierten die Wahllokale vor Anschlägen schützen, folglich die Deckung ihrer Camps aufgeben, wo doch zur Zeit schon ein Munitionstransport tödliche Risiken heraufbeschwört. Unter diesen Umständen gerät eine Wahl unwillkürlich zur großen Kraftprobe zwischen der Macht der Besatzer und dem Widerstand der Besetzten. Wahlen zwingen zum militärischen Offenbarungseid: Wer kontrolliert das Land - und wer nicht? Oder nur zum Teil? George Bush wird die Antwort vor der Entscheidung über den nächsten US-Präsidenten am 2. November nicht hören wollen. Sein Wunsch nach einer Wiederwahl dämpft die Aussichten auf Wahlen im Irak.

Schließlich ist auch ungewiss, ob es ihm in drei Monaten auf dem NATO-Gipfel in Istanbul gelingt, das Bündnis nach dem Modell des "Burden Sharings" in Afghanistan in die Verantwortung zu nehmen. Sollte allerdings die NATO in den Irak gehen, dann wohl kaum für drei oder vier Monate, sondern für Jahre. Eine künftige irakische Regierung wäre demnach keine sonderlich souveräne Instanz, so dass es für den Siegszug der Demokratie am Tigris nicht übermäßig ins Gewicht fällt, wann und ob sie überhaupt gewählt wird.


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