Den europäischen Anker lichten

EU/Türkei Nach dem jüngsten EU-Fortschrittsbericht sollten Brüssel und Ankara voneinander lassen

Wäre die Türkei so nationalistisch, wie sie von außen oft und gern gesehen wird, müsste sie der EU nach dem jüngsten Fortschrittsbericht Adieu sagen. Nicht unbedingt, weil die EU-Prüfer ein höchst ungerechtes Urteil gefällt hätten, sondern weil mit der türkischen EU-Kandidatur so offensichtlich gespielt und taktiert wird, dass es die Souveränität eines Staates verletzt, dem Derartiges widerfährt.

Als die Evaluierung vor mehr als einem Jahr begann, konnte in Brüssel und anderswo nicht der geringste Zweifel bestehen, dass die Türkei trotz aller inneren Reformen politische Standards pflegt, die sich klar von dem unterscheiden, was im Europa der EU als Muster an demokratischer Hochkultur gilt. Auch dass die türkischen Kurden als Menschen zweiter Klasse behandelt und nicht als kurdische Türken respektiert werden, konnte kaum entgangen sein. Schließlich - das war gleichfalls bekannt - hatte die Regierung von Premier Tayyip Erdogan mit dem geteilten Zypern einen Konflikt geerbt, den sie kaum über Nacht lösen konnte, wollte sie nicht ihr politisches Überleben riskieren - in einer nach europäischer Lesart, siehe oben, doch so nationalistisch veranlagten Gesellschaft.

Als Quintessenz aus alldem ergibt sich: Genau genommen war die Türkei vor einem Jahr so EU-untauglich, wie man es nur irgendwie sein konnte. Und es durfte getrost ausgeschlossen werden, dass sich daran innerhalb eines Jahres viel ändern würde. Es sei denn, der türkische Staat wollte vor lauter Europa-Ambitionen soweit gehen, seine politische Identität zu verleugnen oder gar aufzugeben.

Atlantischer Lastenausgleich

Warum wurde dann überhaupt mit Verhandlungen begonnen? Weil die abendländisch-christliche Hermetik in Zeiten der morgenländisch-islamischen Herausforderung nicht mehr zeitgemäß schien? Gewiss hatte es etwas für sich, dass ausgerechnet eine Regierungspartei in Ankara, die ihre Wurzeln im politischen Islam weiß, so inbrünstig an die europäische Pforte schlug. Das durfte man nicht ignorieren.

Überdies war eine politische Kompensation für die militärische Abstinenz der EU-Kernstaaten Frankreich und Deutschland bei der Irak-Invasion vom Frühjahr 2003 fällig - will heißen: Die Amerikaner hatten aus Gründen des atlantischen Lastenausgleichs einen Wunsch frei und legten daher großen Wert darauf, ihrem strategischen Partner Türkei einen europäischen Anker zu verschaffen. Einerseits, um bei der angestrebten Neuordnung von Nah- und Mittelost ("Greater Middle East") auch die Flanke am Bosporus einzubinden: Die Türkei als NATO- und EU-Mitglied schien auf Dauer gegen die islamistische Versuchung gefeit, zugleich aber ein Bindeglied zur islamischen Welt. Zum anderen sollten europäische Weihen die Türken für die amerikanische Kurdenpolitik im Nordirak entschädigen, die Ankara missfiel und zu Gegenmaßnahmen - bis hin zu grenzüberschreitenden Militäraktionen - reizte. Immerhin musste man auf türkischer Seite schlucken, dass sich die irakischen Kurden unter US-Schutz einer weitreichenden Autonomie erfreuten. Wer als Kurde in Südostanatolien Gleiches verlangte und dem gar mit der Waffe in der Hand Nachdruck verlieh - das taten bekanntermaßen die nordirakischen Kurden unter ihren Führern Talabani und Barzani zu Zeiten Saddam Husseins - war dem Tode geweiht wie Abdullah Öcalan. Der türkische Kurdenführer wartet bis heute vergeblich auf eine Begnadigung. Da ändert es auch nichts, wenn der irakische Kurdenführer Jalal Talabani seit April 2005 als Staatspräsident in Bagdad vereidigt ist.

In diesem Konflikt zwischen Washington und Ankara war die EU höchst willkommen, um die Türkei vor "unbedachten Handlungen" zu bewahren, die den Beitrittshorizont nur trüben konnten. Warum auch nicht? Warum sollte die Europäische Union nach der raumgreifenden Osterweiterung von 2004 nicht diesen Ausfallschritt in Richtung Süden riskieren. Ihrem Anspruch, als globaler Akteur wahrgenommen zu werden, konnte das nur entgegenkommen. Wann hatte die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) je Gelegenheit, ein solches Feld der Bewährung auszuschreiten? Dank des Mitglieds Türkei würde man über eine gemeinsame Grenze mit Syrien, Iran und Irak verfügen, wäre kollektiver Frontstaat im Nahen Osten und demzufolge gefordert, nicht nur gegenüber den genannten Ländern eine Politik zu formulieren, sondern auch im Verhältnis zu Israel mit einer Stimme zu sprechen.

Zerreißprobe für das "Europa der 27"

Freilich waren diese Aussichten geeignet, manch heikle Frage zu provozieren. Zum Beispiel: Würde man sich nicht viel zu sehr nach dem EU-Mitglied Türkei richten müssen, wenn künftig über den "Schurkenstaat" Syrien oder das iranische Atomprogramm oder was auch immer zu befinden ist? Oder: Wären EU-Sanktionen, wie sie seit März 2006 gegen die palästinensische Hamas-Regierung verhängt wurden, auch denkbar, säße die Türkei in Brüssel mit am Tisch? Man wusste ja, dass die deutsche Kanzlerin eine Antwort auf diese Frage nicht abwarten, sondern gleich den privilegierten Partner dem evaluierten Vollmitglied vorziehen mochte.

Ein türkischer Mitspieler würde eine EU-Nahostpolitik zwangsläufig grundieren, das steht außer Zweifel. Nicht allein als Folge der geografischen Verhältnisse, auch als Zeichen des politischen Willens und der religiösen Subtexte eines Staates, der sich immerhin als Regionalmacht begreift. Welche Zerreißproben unter diesen Umständen einem "Europa der 27" (Bulgarien und Rumänien schon mit gerechnet) drohen, lässt sich denken. Ganz abgesehen davon, dass seit den Römischen Verträgen von 1957 noch nicht einmal die beiden EWG-Gründer Frankreich und Deutschland in den fast 50 Jahren ihres europäischen Miteinanders so etwas wie eine gemeinsame Nahost-, geschweige denn Israel-Politik zu Stande brachten.

Für die EU kann all das nur heißen: Entweder sie verzichtet endgültig auf den Anspruch, als Politische Union zu handeln, und begnügt sich mit der Wirtschafts- und Währungsunion - kurz dem Gemeinsamen Markt -, dann wäre eine Aufnahme der Türkei sinnvoll, vorausgesetzt, sie bewegt sich in der Zypern-Frage. Oder der ungeliebte Kandidat wird auf Distanz gehalten, um als EU gegen Herausforderungen gefeit zu sein, denen man auf absehbare Zeit nicht gewachsen ist. Mit einer "privilegierten Partnerschaft" dürfte sich die Regierung Erdogan nicht abfinden lassen, der Gesichtsverlust wäre zu groß. Es scheint daher an der Zeit, in Einsicht und Einvernehmen voneinander zu lassen. Wie heißt es doch bei Bertolt Brecht? Kurz darauf schieden sie voneinander und entfernten sich - jeder an seine Statt.


Ante portas - eine Chronik

1963
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) schließt mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen, bei dem erstmals von einer Beitrittsperspektive die Rede ist.

1987
Nach der Aufnahme Griechenlands (1981) sowie Spaniens und Portugals (1986) in die Europäische Gemeinschaft (EG) stellt auch die Türkei einen Beitrittsantrag, der nach zweijährigen Debatten in der EG abgelehnt wird.

1995
Der inzwischen in Europäische Union (EU) umbenannte Staatenbund einigt sich mit Ankara auf eine "privilegierte Partnerschaft innerhalb einer Zollunion", ergänzt durch Wirtschaftsabkommen, die den Marktzugang in die EU erleichtern sollen.

2001
Als die EU-Osterweiterung Konturen annimmt, bemüht sich auch die türkische Regierung erneut um Anschluss an das damalige "Europa der 15" und erreicht, dass die Option "privilegierte Partnerschaft" in "Beitrittspartnerschaft" überführt wird, allerdings gebunden an eine Einigung in der Zypern-Frage.

2004
Der Europäische Rat beschließt Ende des Jahres - trotz unveränderter Positionen des Bewerbers in Sachen Zypern - mit der Türkei 2005 "unbefristete und ergebnisoffene Verhandlungen" aufzunehmen, an deren Ende ein EU-Beitritt stehen kann.

2005
Acht Monate nach dem Grundsatzbeschluss zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beginnen die Gespräche in Luxemburg. Die 25 EU-Außenminister eröffnen am 3. Oktober mit dem türkischen Ressortchef Gül das erste Kapitel "Wissenschaft und Forschung".


Zustimmung zum EU-Beitritt der Türkei


(Angaben in Prozent)

Schweden60

Finnland56

Deutschland27

Österreich13

EU-Durchschnitt39

Stand April 2006 / Quelle: Eurobarometer


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