Das hat sich Theresa May vermutlich in ihren kühnsten Alpträumen nicht vorstellen können. Statt eines Zuwachses für ihre Partei von 30 bis 80 Mandaten im britischen Unterhaus gibt es Verluste und mit erreichten 318 Sitzen keine absolute Mehrheit mehr. Dem gegenüber steht das fulminante Ergebnis von bisher 261 Mandaten (2015: 232) für die Labour-Party und ihren Vorsitzenden Jeremy Corbyn, der sicher vom verunglückten Wahlkampf der Premierministerin und den von ihr angekündigten sozialen Härten profitiert hat.
Doch steht hinter Corbyns Erfolg vor allem ein dezidiert linker, an den Sorgen der Menschen orientierter Wahlkampf, dem allen Unterstellungen und Verleumdungen zum Trotz nichts Populistisches, sondern Verantwortung anhaftete. Sein Slogan „Für die vielen, nicht die wenigen!“ traf offenbar den Nerv vieler Wähler. Corbyn sprach davon, dass es die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Staates sei, endlich in ein am Rande des Kollaps wandelndes Nationalen Gesundheitssystem (NHS) zu investieren, sich zu entschließen, die Studiengebühren abzuschaffen oder über einen Mindestlohn von zehn Pfund pro Arbeitsstunde nachzudenken. Schließlich kam es dem Labour-Chef zugute, dass er sich so gründlich von Mays Aura einer kühlen Unnahbarkeit abheben konnte.
Griff zur Rasierklinge
Diese Wahl wirkt angesichts ihres Ausgangs keineswegs wie ein zweites Referendum über Sein oder Nichtsein in der EU. Es kann schwerlich aufgehoben werden, was am 23. Juni vor einem Jahr entschieden wurde. Aber wie mit dieser Unabänderlichkeit umgegangen wird – das ist eine der Botschaften dieses 8. Juni 2017 –, soll nicht allein Theresa May und ihren konservativen Hardlinern überlassen bleiben, die den harten Schnitt einem geschmeidigen Ausscheiden vorziehen. Dieser Auffassung scheint ein beträchtlicher Teil der britischen Wählerinnen und Wähler zu sein.
May hat bei diesem Votum nicht das erwünscht überzeugende Mandat erhalten, um mit der EU bei den theoretisch in zehn Tagen beginnenden Exit-Talks Tacheles zu reden. Wie lange sie noch regiert, ist ohnehin ungewiss. Machtkämpfe unter den Tory-Granden sind absehbar – und bereits ausgebrochen. Je angeschlagener die Premierministerin in die Austrittsverhandlungen geht, desto lauter dürfte der Ruf nach einer baldigen Demission sein. Wer May beerbt, ist in keiner komfortableren Position und aller Voraussicht nach Führer einer Minderheits-, Koalitions- oder Übergangsregierung – bis zu den nächsten Neuwahlen?
Feststeht, die Labour Party ist mehr denn je als Korrektiv erwünscht und gefragt, die schottischen Patrioten der SNP um Nicola Sturgeon sind es ebenso, auch wenn sie das herausragende Ergebnis der Unterhauswahl vom Mai 2015 nicht wiederholen konnten, die Liberalen natürlich gleichermaßen.
Auf jeden Fall war diese Wahl Teil einer noch lange nicht abgeschlossenen Auseinandersetzung mit dem Vollzug des Brexits. Der britische Schriftsteller Ian McEwan ("Der Zementgarten", „Abbitte“) meinte Mitte Mai bei einem Auftritt in der Londoner Central Hall, das Land habe vor einem Jahr wie ein deprimierter Teenager zur Rasierklinge gegriffen, um sich den Arm zu ritzen, und beäuge jetzt die eigene Halsschlagader. Der Win-Win-Effekt, von dem die Brexit-Anhänger bei den Tories so überzeugt sind, liegt momentan nicht nur außer Reichweite – er wird von sehr vielen Briten offenbar ausgeschlossen.
Dass die Konservativen in einen so kaum erwarteten Abwärtstrend geraten, hat auch etwas mit der Politik ihres einstigen Vorsitzenden und Premiers zu tun. David Cameron war von der Überzeugung beseelt, einen Sieg bei der Unterhauswahl im Mai 2015 absichern zu müssen, indem er ein EU-Referendum versprach, das spätestens 2016 stattfinden sollte. Dabei wurde die eigene politische Ambition über eine abwägende Rationalität gestellt, die sich der Sehnsucht nach einer Passion des Türknallens gegenüber der EU verweigerte.
Die gärte auch deshalb, weil in die britische EU-Mitgliedschaft Verlusterfahrungen oder -ängste projiziert wurden, die sich mehr aus dem unbefriedigenden globalen Ranking des Vereinigten Königreiches als den regionalen Rangeleien in der EU ergaben. Jetzt freilich steht Großbritannien geschwächter, gespaltener und als ein Player da, dem der europäische, aber auch der transatlantische Anker fehlt, denn Donald Trump wird sich kaum erbarmen und kompensieren wollen, was London mit dem europäischen Binnenmarkt abhanden kommen dürfte.
Ermutigung für die EU?
Die EU-Kommission als Brexit-Verhandlungspartner wird ein Wahlergebnis, das die Austrittsrigorosität der britischen Konservativen konterkariert, mit einer gewissen Genugtuung zur Kenntnis nehmen. Die Europäische Union insgesamt ist in den vergangenen Wochen noch mehr unter Druck geraten, als das zuvor schon der Fall war. Es weht ein deutlich kühlerer Wind aus Washington, es gibt weiter eine ungelöste Migrations-, letztlich auch eine Eurokrise, die nur eingedämmt, aber von ihren Ursachen her nicht beseitigt ist.
Und es gibt die oft irrational nationalistisch argumentierenden rechtspopulistischen Partei, nicht nur in den Niederlanden, Frankreich, Belgien oder Deutschland, auch in Ungarn, Polen, Rumänien oder der Slowakei. Das dortige Rechtsaußen-Lager liegt teilweise außerhalb eines westeuropäischen Wahrnehmungsvermögens, ist aber von seinen Kernbotschaften her sehr viel EU-nihilistischer als verwandte Akteure weiter westlich. Dass die Briten mit ihrem Exit nun mit sich selbst ein Exempel statuieren, kann für die politische Kontroverse mit Ultranationalisten nur hilfreich sein.
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