Der darf das

Türkei Ohne die Hilfe von Präsident Erdoğan kann Angela Merkel einpacken. Die deutsche Außenpolitik ist ein Muster für Opportunismus
Ausgabe 03/2016
Traute Zweisamkeit: Angela Merkel mit Präsident Tayyip Erdoğan
Traute Zweisamkeit: Angela Merkel mit Präsident Tayyip Erdoğan

Foto: Guido Bergmann/Bundesregierung/Getty Images

Sage mir, mit wem du paktierst, und ich sage dir, wer du bist. Bezogen auf die internationalen Beziehungen, klingt das nach der großen Moralkeule. Die Formel sollte daher lauten: Sage mir, mit wem du dich arrangierst und warum – und ich nehme dir ab, dass man manchmal skrupellos sein muss, um politikfähig zu bleiben. Leider hat die Politik ein Problem mit solcher Wahrheit. Sie kann oder will wegen der allgemeinen Wertepflicht nicht ehrlich sein und bekennen, dass nationale Interessen der eigenen Außenpolitik häufig den zivilisatorischen Glanz rauben. Bezogen auf das Verhältnis zwischen Deutschland und der Türkei Tayyip Erdoğans heißt das, je mehr diesem Staatschef eine Schlüsselrolle in der Flüchtlingskrise zukommt, desto bedingungsloser wird sein Regime toleriert. Das gilt auch dann, wenn die türkische Armee im Südosten des Landes kurdische Stadtviertel ohne Rücksicht auf die Bevölkerung zusammenschießt und in einen Amoklauf gerät, der allemal für eine Anklage der politisch Zuständigen vor dem Internationalen Strafgerichtshof taugt.

Die Regierung in Berlin lässt sich davon nicht erschüttern. Sie schweigt, wenn der NATO-Partner mit Menschenrechten umgeht, als würden sie für Kurden nicht existieren. Angela Merkel erteilt in dieser Woche gar den partnerschaftlichen Ritterschlag, wenn sie zur gemeinsamen Kabinettssitzung bittet. Solcherart Vertrauensbeweis wird sonst nur Frankreich, Polen, den Niederlanden, Italien, Spanien und Israel zuteil. Die deutsche Kanzlerin tut, was sie kann, damit der türkische Präsident bei seiner Zusage bleibt, die Grenze zur EU gegen Flüchtlinge abzuschotten. Was, wenn er davon abließe, um Kritiker seiner Kurdenpolitik zu strafen? Es ist weltfremd, darauf zu rechnen, dass sich 28 EU-Staaten irgendwann auf Migrationsquoten einigen. Folglich würde mehr als nur eine Kulisse in Merkels Beschwichtigungstheater umkippen, sollte sich Erdoğan verweigern. Er kann tun und lassen, was er will, ohne unter das von Deutschland gern beanspruchte Erziehungsrecht zu fallen.

Verpasste Chance?

Man könnte den notorischen Reflex zum Wegschauen mit einem Schulterzucken quittieren. Es gibt ihn schließlich überall, bei Saudi-Arabien, den Obristen in Ägypten, den Drohnen-Kriegern in den USA. Dennoch muss in Sachen Türkei die Frage erlaubt sein: Hätte hier Realpolitik auch präventiv statt nur prinzipienlos sein können? Als die Regierung Erdoğan vor gut einem Jahrzehnt reformwillig auf Europa zuging, weil eine EU-Aufnahme Prestigegewinn und ökonomischen Vorteil versprach, fand sie sich in die Warteschleife abgeschoben. Die damals schon regierende Kanzlerin sah in einer privilegierten Partnerschaft das höchste der Gefühle. Ankara fühlte sich brüskiert, war aber zugleich von allzu großem Reformdruck befreit (was sich rächen sollte). Man durfte erleben, wie schizophren Politik sein kann, wenn es darum geht, den Schein zu wahren. In Brüssel wurde über einen Türkei-Beitritt verhandelt, obwohl feststand, dass es den nie geben würde, solange die EU-Macht in Berlin dagegen war. Merkels Widerstand resultierte aus Bedenken gegenüber EU-Außengrenzen mit Syrien, Irak, Iran, Armenien und Georgien, die man sich mit dem Neuzugang einhandeln würde. Auch hatte ihre Aversion viel mit dem Zwang zu einer gemeinsamen Nahostpolitik zu tun, die es in der EU bis dahin nie gab, aber mit einem EU-Mitglied Türkei zwingend schien. Die Nachsicht, mit der Deutschland seit Jahrzehnten die israelische Besatzungspolitik bedachte, hätte sich schwerlich halten lassen. Also blieb Erdoğan ausgesperrt, um heute als Herr der Flüchtlingsströme zu diktieren, wie Berlin und Brüssel auf seinen Staatsterror gegen die Kurden zu reagieren haben.

Es ist damit wie im wahren Leben, wer sich einmal erpressen lässt, wird immer wieder erpresst, solange er erpressbar bleibt. Jetzt erneut in Beitrittsgespräche mit Ankara einzutreten, wie das seit November abgemacht ist, bezeugt einen grotesken Kotau vor einem nicht EU-kompatiblen System. Ginge es nach bisherigen Aufnahmekriterien, dürften in Brüssel türkische Gesandte erst dann gehört werden, sobald Tayyip Erdoğan der autoritären Versuchung abschwört, zu Verhandlungen mit der PKK zurückkehrt, bürgerliche wie mediale Freiheiten garantiert und die Wirtschaft von der Geißel der Korruption befreit. Was wird davon geltend gemacht? Eine rhetorische Frage. Weder die EU-Kommission noch die Regierung Merkel sind Herr des Verfahrens.

Es greift zu kurz, von Kapitulation zu sprechen. Wer sich verstellt, den erkennt man oft besser als je zuvor. Das Tragikomische der vermeintlichen Selbstverleugnung besteht darin, dass der Werteverzicht keine neuen Handlungsoptionen eröffnet. So sehr Erdoğan auch hofiert wird – es ändert sich nichts an den Kontrollverlusten, wie sie derzeit deutscher Außen- und Innenpolitik widerfahren. Denn der Umgang mit der Türkei ist weit davon entfernt, tatsächlich zu erreichen, was er als erreichbar vorgibt. Die Ankara zugesagte EU-Finanzhilfe von drei Milliarden Euro ist so wenig sicher wie Erdoğans Beistand beim Auffangen von Flüchtlingen – der klassische Ziel-Mittel-Konflikt.

Einst wurde Angela Merkel attestiert, dass sie aus Vorsicht gern auf Sicht navigiere und klare Entscheidungen über ihren Kurs vermeide. Inzwischen muss sie sehen, wohin es sie steuert.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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