Die Morgenluft am Bug ist feucht und dicht. Still vom Fluss zieht leichter Nebel weit ins Land. Weit hinein, auf und davon. Deinen Augen wirst du nicht trauen an diesem Tag, Elisaweta Jakutina, und hoffen, wenn du noch hoffen kannst, dass dir dein Kopf nicht wegrennt vor Schmerz. Man setzt sich auf keinen Stein an solchem Morgen. Jeder Stein ist kühl und zieht die Wärme aus dem Körper. Wenn die Vögel schreien wie wahnsinnig, hat der Totentanz begonnen.
Die Festung Brest, gelegen am Zusammenfluss von Bug und Muchawez, ist am 22. Juni 1941 erstes Angriffsziel der Heeresgruppe Mitte unter dem Oberbefehl des Generalfeldmarschalls Fjodor von Bock. Dessen 45. Division soll den russischen Vorposten bis 12.00 Uhr mittags einnehmen – seine Kasernen und Forts, die Schulen, den Kindergarten und die Häuser für die Offiziersfamilien, die kleine Stadt hinter Wällen aus Felsstein und Ziegeln, gebaut über Tavernen und Kasematten.
Normalerweise leben hier 8.000 Menschen, doch der 22. Juni 1941 ist ein Sonntag. Erst in der Nacht darauf endet der Wochenendurlaub. Niemand rechnet mit einem Angriff. Etwa 3.500 Soldaten schlafen in den Kasernen, als um 4.00 Uhr das Trommelfeuer beginnt. Auch Elisaweta Jakutina schläft noch, sie hat ihre Abiturfeier hinter sich, die Abschiedsstimmung noch nicht. In den nächsten Tagen will sie nach Minsk, um sich am Technikum einzuschreiben. Ein Buch mit Gedichten von Alexander Blok, das Abschiedsgeschenk ihrer Lehrerin, liegt aufgeschlagen am Bett. „Die dumpfe Jahre nur erfahren. Erinnern ihren Weg nicht mehr. Als Kinder der russischen Schreckensjahre fiel uns ein Vergessen schwer.“
Nun aber liest sie nicht mehr. Rast ins Freie wie die andern. Barfuß in den Krieg, den Mantel übergeworfen, ein dahintreibender Minutenschlag. Die Straße entlang bis zum nächsten Graben oder Tor der Festung. Über sich den Himmel von Brest, schwarz und voller Flugzeuge. Nur wohin? Es gibt keinen Schutz gegen Feuerwände, die sich rasch und überall erheben. Wer auf der Flucht den Angreifern zu nahe kommt, muss sich unter ihre Geschütze legen. Kinder bekommen in Minuten graue Haare. Aus den Ohren sickert Blut. Auf den Gesichtern liegt ein Entsetzen, als hätten sie die kommenden Jahre gesehen.
Mild für die Zukunft
Deutschlands Krieg im Osten ist vom ersten Tag an ein Krieg der „Endlösungen“. Er soll, „das Asiatisch-Minderwertige, besonders das Judentum beseitigen“ (Hitler), den sowjetischen Völkern für immer das Existenzrecht nehmen, Leningrad und Moskau auslöschen, die Intelligenz und Führungsschicht der UdSSR liquidieren. Generalstabschef Franz Halder notiert am 30. März 1941 nach einer Runde im Führerhauptquartier, mit dem Unternehmen Barbarossa ziehe man in einen „Vernichtungskampf“ und führe nicht Krieg, „um den Feind zu konservieren“. „Der Kampf wird sich unterscheiden vom Kampf gegen den Westen. Im Osten ist Härte mild für die Zukunft.“
Als die 153 Divisionen der Wehrmacht mit 3.580 Panzern, 7.481 Geschützen und 2.110 Flugzeugen am 22. Juni 1941 losschlagen, führt ihr Vormarsch aus dem Zweiten in einen Dritten Weltkrieg. Der Gegner soll nicht besiegt, sondern ausgerottet werden bei diesem Kreuzzug im Namen der germanischen Kultur, die zeigt, was sie kann, und die Kreuzfahrer nicht nur auf Härte, sondern Barbarei eingeschworen hat. Etwa mit dem Kriegsgerichtsbarkeitserlass vom 13. Mai 1941, der bei Handlungen gegen „feindliche Zivilpersonen“ jeden „Verfolgungszwang“ aufhebt, auch „wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen“ ist. Das gilt besonders den im Hinterland operierenden Einsatzgruppen der SS, die allein im ersten Kriegsjahr eine halbe Million Menschen aus der jüdischen Bevölkerung ermorden. Am 6. Juni 1941 hat das Oberkommando der Wehrmacht außerdem den Kommissarbefehl erlassen, der Politoffiziere der Sowjetarmee nicht als Soldaten anerkennt. „Sie sind nach durchgeführter Absonderung zu erledigen.“ Und die „wirtschaftspolitischen Richtlinien des Wirtschaftsstabes Ost“ – sie verfügen am 23. Mai 1941, dass „Russlands Getreidezonen“ künftig Deutschland gehören, weil der Krieg nur weiterzuführen sei, „wenn die gesamte Wehrmacht im 3. Kriegsjahr aus Russland ernährt wird“. „Viele 10 Millionen von Menschen“ würden „in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben“, befindet der Wirtschaftsstab Ost ungerührt.
Schon am ersten Tag des Angriffs wird die Wasserversorgung der Brester Festung zerstört. Nur nachts kann es noch gelingen, zum Bug hinunter zu kriechen, die Feldflasche am Gürtel oder eine Büchse am Hals. Flak-Scheinwerfer der Wehrmacht leuchten das Ufer aus, kurze Feuerstöße folgen. Raben flattern kreischend auf.
Polina Stankowa, damals Schwester im Hospital, erinnert sich: „Bei uns lagen etwa 400 Patienten, von denen nach dem Ende der Kämpfe nur ein einziger überlebt hatte – Jewgenij Blochin, der noch am 22. Juni operiert wurde und deshalb das meiste Wasser bekam von dem wenigen, das wir hatten ...“ Alle anderen Kranken, auch die bei den Kämpfen Verwundeten, können kaum versorgt werden. Die Apotheke brennt aus, das Verbandszeug geht verloren, es wird Bettzeug in Streifen gerissen, bald auch die Unterwäsche der Schwestern, dann nichts mehr. Am schlimmsten ist das langsame Verdursten. Kehrt wirklich jemand vom Bug zurück, bleiben höchstens Tropfen für jeden. Es reicht nur, Verwundeten und Sterbenden die Lippen zu benetzen, auch wenn sie betteln und flehen. Wasser brauchen auch die Verteidiger der Festung, um ihre Maschinengewehre zu kühlen. Den Verdurstenden ein paar Stunden Leben schenken oder für Stunden eine intakte Waffe haben. Was soll man tun? Wie sich entscheiden?
Am Nachmittag des 22. Juni 1941 spricht Außenminister Molotow über Radio Moskau, erst stockend, bald hastig, als würde ihm der Atem ausgehen und er das Ungeheuer auf sich zukommen sehen. „Es ist nicht das erste Mal, dass es unser Volk mit einem übermütigen, angreifenden Feind zu tun hat.“ Napoleons Große Armee ging 1812 in Russland verloren. „Dasselbe wird mit dem außer Rand und Band geratenen Hitler geschehen ...“
Jahre, die zu Asche brannten
Im Aufmarschbefehl für die Heeresgruppe Mitte wird festgehalten: „Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung ... Dieser Kampf muss die Zertrümmerung des heutigen Russland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden.
„Ihr Jahre, die zu Asche brannten! Trugt Wahnsinn, Hoffnung ihr uns ein? Von Freiheitstagen, Kriegsgelagen. Zeigt’s Antlitz blut’gen Wiederschein“, hat Elisaweta bei Blok gelesen, bevor sie aus dem Haus stürzt, keinen kühlen Stein findet und nicht mehr erfahren wird, das in den nächsten Tagen von Minsk nur Ruinen bleiben – auf Jahre hinaus.
Am 29. Juni, eine Woche ist vergangen, seit erste Bomben auf die Brester Zitadelle fielen, werden von der 45. Infanterie-Division Flammenwerfer in die vorderste Linie befohlen. Deren Feuerzungen – 4.000 Grad heiß und 30 Meter lang – schlängeln sich durch jeden Schützengraben, jeden Kellergang, jedes Treppenhaus, jedes Menschenleben. In den Kasematten von Brest hinterlässt diese Waffe zusammengeschrumpfte oder nicht mehr auffindbare Leiber in Grüften aus geschmolzenem Mauerwerk, deren Ziegel zerlaufen wie flüssiges Blei. „Im Osten ist Härte mild für die Zukunft“, hat Generaloberst Halder notiert.
Als am 20. Juli der letzte Widerstand in Brest erlischt, steht die Heeresgruppe Mitte mit ihren Panzern schon vor dem Smolensker Kessel, der sie lange aufhalten wird bei ihrem Marsch über die „Rollbahn“ oder Autobahn Nr. 1, die direkt nach Moskau führt. Kriegsgefangene müssen die Toten aus der Festung bergen. Was sie sehen, ist nicht zu ertragen. Da liegen Arme, Beine und Körper, unmöglich herauszufinden, was zu wem gehört. Über Elisaweta Jakutina war nichts mehr zu erfahren nach jenem 22. Juni 1941. „Ihr Jahre, die zu Asche brannten!“
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