Als Anfang Oktober 1946 das Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal sein Urteil gegen die Führer des NS-Staates und der Wehrmacht sprach, hieß es in der Begründung, die Entfesselung eines Angriffskrieges sei nicht nur „ein internationales Verbrechen“, es sei „das größte internationale Verbrechen, das sich von anderen Kriegsverbrechen nur dadurch unterscheidet, dass es in sich alle Schrecken vereinigt und anhäuft“. Ein knappes Jahr zuvor, am 20. November 1945, als der Prozess begann, meinte der amerikanische Chefankläger Robert Jackson, „wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden … Das Kriegsrecht gilt nicht nur für Verbrecher besiegter Länder.“
Den Haag und der Schurkenstaat Sudan
Über 60 Jahre und eine ganze Epoche später muss die Frage erlaubt sein, woran will sich der Internationale Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag „morgen von der Geschichte“ messen lassen? Daran, dass er mit der Entsagung eines Sisyphus Rechtspflege betrieb, während ringsherum Rechtsferne und Rechtsbruch zum politischen Ritterschlag taugten? Dass er sich einem Rechtsnihilismus widersetzte, der heute im Sudan und in Simbabwe ebenso Regierungspraxis ist wie in den USA und in Deutschland? Dass zwar ein Haftbefehl für den sudanesischen Präsidenten Omar al Bashir her musste, nicht aber einer für George Bush und Tony Blair erwogen wurde, weil das Prinzip „gleiches Recht für alle“ auch für den ICC nur ein Anspruch bleibt?
Bomben auf Berlin?
Niemand wird ernsthaft bestreiten, dass die vor sechs Jahren unter Führung der USA und Großbritannien entfesselte Irak-Invasion ein Angriffskrieg war. Ebenso wie die von der NATO vor zehn Jahren geführte Luftschlacht gegen die Bundesrepublik Jugoslawien. Zwei Beispiele für eine Aggression, mit denen Umgangsformen zurückkehrten, wie sie der Dreißigjährige Krieg kannte und die Angeklagten des Nürnberger Tribunals bevorzugt hatten.
Weder im März 2003 noch im März 1999 handelten die Angreifer in Notwehr und zur Selbstverteidigung. Bagdad bedrohte nicht Washington, Belgrad nicht Berlin. Weder hier noch da hatten die Angreifer einen Beschluss des Sicherheitsrates in der Tasche, der legitimierte, was sie taten.
In Deutschland leistete sich die von SPD und Grünen gebildete Regierung Schröder mit ihrem Einstieg in den Jugoslawien-Krieg gleich einen vierfachen Rechtsbruch: Sie führte einen grundgesetzwidrigen Angriffskrieg, sie verstieß gegen das Gebot zum Gewaltverzicht der UN-Charta (Kapitel I, Art. 2), sie ignorierte den NATO-Vertrag von 1949, der dazu verpflichtet, bei internationalen Konflikten das Völkerrecht einzuhalten, sie missachtete den Zwei-plus-vier-Vertrag vom 12. September 1990, mit dem beide deutsche Staaten den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges versprachen, „dass das vereinte Deutschland keine seiner Waffen jemals einsetzen wird, es sei denn in Übereinstimmung mit der Verfassung und der Charta der Vereinten Nationen“ (Art. 2).
Wozu sollte ein Tribunal wie der ICC sonst gut sein, als solcherart Rechtsbeugung zu ahnden oder zumindest deren Wiederkehr zu verhindern? Der Sinn eines Weltgerichts, dessen Geburtsurkunde (das Römische Statut von 1998) inzwischen 106 Staaten ratifiziert haben, kann doch nur darin bestehen, dem Recht wieder zu seinem Recht zu verhelfen und die Verluderung der Sitten zu stoppen. Auch wenn manche Anklagen in der Erwartung erfolgen, die Beschuldigten ohnehin nicht auf die Haager Anklagebank holen zu können.
Leider ist dem ICC eine derartige Konsequenz fremd. Seine Richter setzen sich in der Causa al Bashir lieber dem Verdacht aus, ein Strafgericht des Westens gegen den Rest der Welt zu sein. Abgesehen vom Fall des sudanesischen Präsidenten wurde im Mai 2008 ein Haftbefehl gegen Ahmed Mohammed Harun erlassen, einen Anführer der Dschandschawid-Milizen (Reiter-Schwadronen) in Darfur. Ende Januar 2009 begann der Prozess gegen den kongolesischen Guerilla-Führer Thomas Lubanga, dem vorgeworfen wird, Kindersoldaten rekrutiert zu haben. Auf sein Verfahren vor dem ICC wartet der ebenfalls aus dem Kongo stammende Politiker und Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Pierre Bemba.
Vier Angeklagte aus Afrika, keine Anklage gegen Bush, Blair oder sonst einen der Paten des „humanitären Interventionismus“. Keine Anklage wegen verübter Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Womit sonst hat man es bei einer Million toter Iraker zu tun? Das Argument, wie Russland und China würden auch die USA den Weltgerichtshof ablehnen und hätten das Römische Statut nicht ratifiziert, wirkt lächerlich – auch der Sudan verweigert sich dem Haager Tribunal, seit dort im März 2003 die ersten Richter vereidigt wurden.
Bomben auf Khartum
Recht ist unteilbar, Recht ist unbestechlich – deshalb will ICC-Chefankläger Luis Moreno-Ocampo nach eigenem Bekunden mit Omar al Bashir den ersten aktiven Staatschef vorführen lassen, um zu demonstrieren: Niemand steht über dem Gesetz. Dieser Gerichtshof soll den Status haben, der ihm nach seinem Statut gebührt, er soll eine juristische Instanz sein, die Politik nicht nach Interessen und Zwecken fragt, sondern auf ihre Rechtmäßigkeit hin prüft.
Wenn das gelingt, stehen wir an der Schwelle einer anderen Welt. Einer besseren sogar, sollte sich die juristische Leidenschaft Moreno-Ocampos mit dem Fall al Bashir nicht erschöpft haben. Leider ist genau das zu befürchten, weil dem Täter aus einem von Bürgerkriegen gezeichneten Land nicht zugestanden wird, auch Opfer zu sein. Das mag für viele unerhört klingen, aber Omar al Bashir war bereits Präsident, als der Sudan Ziel einer Aggression war. Der damalige US-Präsident Clinton ließ am 7. August 1998 nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Nairobi und Daressalam eine Randzone der Hauptstadt Khartum bombardieren. Es gab keine Beweise für eine Verstrickung des Sudan in die Attentate. Aber an irgendjemanden – so glaubte wohl die unter Druck stehende US-Regierung – müsse man sich halten dürfen. Warum nicht an einen „Schurkenstaat“, einen islamischen zumal, der es dem Anschein nach gewesen sein könnte?
Der Weltgerichtshof und sein Chefankläger bleiben nur glaubwürdig, wenn sie als juristische, nicht als gesinnungsethische Überzeugungstäter handeln und zwischen den politischen Führern des Sudan und der USA keinen Unterschied machen. Alles andere degradiert sie zu Vorbetern einer diffusen Weltmoral, die mit dem Haftbefehl gegen al Bashir den Nachweis antreten – Recht kann sehr wohl teilbar sein.
Der argentinische Chefankläger weiß, dass ihn eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates vom März 2005 ermächtigt, gegen diejenigen zu ermitteln, die für hunderttausendfaches Leid in Darfur verantwortlich sind. Er dürfte ebenso wissen, das gleiche Gremium muss dafür sorgen, die humanitäre Hilfe für die Region an der Grenze zum Tschad aufrechtzuerhalten.
Die Reaktion der Regierung in Khartum auf die Anklage gegen al Bashir lässt bezweifeln, ob das möglich bleibt. Schon bieten die Arabische Liga und die Afrikanische Union einen Kompromiss an: Der Sicherheitsrat möge beschließen, dass der ICC die Akte Sudan für ein Jahr schließt, was nach Artikel 16 des Römischen Status möglich wäre. Ein fatales Signal, wenn es dazu käme, weil nicht nur in Sachen Bush und Blair, sondern auch beim Fall al Bashir, die Politik das Recht wieder einmal disziplinieren dürfte. Kam es dem ICC mit seinem Haftdekret vom 5. März darauf an, dies aller Welt und damit sich selbst vorzuführen?
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