Der innere Feind

Norwegen Anders Behring Breivik ist kein Mann aus dem "Nichts". Er will als Christ mit einer radikal nationalistischen Gesinnung eine liberale Gesellschaft herausfordern

Wie kann man in einer solchen Situation als Staat und als Gesellschaft wieder Kraft gewinnen? Die Norweger behaupten von sich, sie seien dazu in der Lage. Auch liegt die Aufforderung, stark zu sein, in allen Solidaritätsbotschaften, die das Land seit dem Grauen vom 22. Juli 2011 erreichen. Sicher ist Ministerpräsident Stoltenberg zuzustimmen, wenn er meint, Norwegen werde auch nach diesem Schock noch erkennbar sein. Aber sollte es sich vielleicht trotzdem um eine anderes Land handeln, das der Frage nicht ausweicht oder nicht mehr ausweichen kann, worin der "Preis einer offenen Gesellschaft" besteht?

Fanatisierte, wahnhafte Einzeltäter des Kalibers Anders Behring Breivik hat es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben. Man denke an Timothy McVeigh und Terry Nichols und ihr Attentat vom 19. April 1995 in Oklahoma City. Oder den Anschlag auf den Bahnhof von Bologna 1980. Offenbar werden bei derartigen Massakern immer eine hohe Zahl von Opfern und eine schwer fassbare Grausamkeit gebraucht, um der Tat den Anstrich einer manifesthaften Botschaft zu geben. Oklahoma-Attentäter McVeigh hinterließ vor seiner Hinrichtung am 11. Juni 2001 einen letzten Brief, in dem er sich als „unbesiegt“ bezeichnete und schrieb, es stehe "168 : 1 für Timothy McVeigh". 168 Menschen waren unter den Trümmern des Murrah Federal Building in Oklahoma City qualvoll gestorben. Handelte der Norweger Anders Behring Breivik um einer ähnlichen Botschaft willen? Vieles spricht dafür.

Möglicherweise ließ er sich auch deshalb festnehmen und verzichtete darauf, seinem monströsen Verbrechen den sich selbst richtenden Märtyrer hinterher zu schicken. Er ist offenkundig um weitere Podien der Selbstdarstellung besorgt, die sich anbieten – in allen Phasen der juristischen und politischen Aufarbeitung des Geschehens. Und es steht zu befürchten, dass ihm die mediale Reflexion um ihrer selbst und ihrer Vermarktung willen, dazu Gelegenheit gibt.

Zweifellos hat die Verharmlosung eines abendländisch verbrämten, christlich gefärbten Rechtsradikalismus dazu beigetragen, dass es solche Fanatiker gibt, die sich durch intellektuelle Verhetzung – neben dem blinden Hass eines Timothy McVeigh – auf eine multikulturelle, nichtrassistische Gesellschaft einschießen. Sie tun es, indem sie einer solchen Gesellschaft den inneren Feind nicht ersparen und sich als solcher in Szene setzen. Sie suchen das Einvernehmen mit dem schweigenden Beobachtertum des Unbehagens und der Intoleranz, die aus der Mitte der Gesellschaft kommen. Ab und zu – bei Wahlen etwa – lässt diese ansonsten eher vorsichtig abwartende Mitte ihrer Abwehr gegen vermeintliche Überfremdung und den Verlust an kultureller Identität freien Lauf. Wenn sich Breivik als Vorkämpfer gegen einen „Kulturmarxismus“ versteht, wird klar, auf welche weltanschaulichen Signalsysteme dies gemünzt ist. In solchem Kontext ist der Einzeltäter dann kein so Vereinzelter mehr, sondern Herold einer nihilistischen Avantgarde.

Gerade in Skandinavien haben sich in den vergangenen Jahren rechtspopulistische Klubs und Parteien etabliert, die nicht nur Wähler jenseits der Zehn-Prozent-Marke rekrutieren. Sie vermögen mehr denn je Stimmungen zu reflektieren und zu prägen. Ob in Dänemark die Volkspartei (zuletzt bei 15 bis 20 Prozent) oder in Schweden die Schweden-Demokraten, die 2010 mit fast sechs Prozent erstmals ins Parlament kamen, oder in Finnland die Wahren Finnen, die erst im April bei den Parlamentswahlen als sensationell empfundene 19,1 Prozent verbuchten. Sie alle wissen nationalen Firnis ebenso zu schätzen wie ein europaskeptisches bis -feindliches Geltungsbedürfnis, das mitnichten auf Peripherien der Gesellschaft schielt, sondern auf deren inneren Zustand – deren Psychogramm und Selbstbehauptungsreflexe. Man kann von der EU, die derzeit mit der Gemeinschaftswährung sich selbst zu retten sucht, nicht verlangen, in einem solchen Moment die große Werbung für das europäische Projekt zu veranstalten. Aber sie kann als politische Instanz etwas tun gegen eine allzu elitäre und administrierende Selbstgewissheit, die sehr aufgeräumt und ganz selbstverständlich Staaten und Völker reglementiert.

Das beschworene mutmaßliche "Nichts", aus dem der Schlächter von Utøya wie ein „Ein-Mann-Freikorps“ gekommen sein soll, das gibt es nicht.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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