Der König steigt vom Thron

Gaddafi Muammar al-Gaddafi rief einst in seiner Heimatstadt Sirrte die Vereinigten Staaten von Afrika aus – ein pan­arabischer Führer wurde zum passionierten Panafrikaner

Arabien hat mit Muammar al-Gaddafi gebrochen, will ihn weder entbehren noch vermissen. Und Afrika? Es verliert mit dem arabischen Führer einen Pan-Afrikaner, wie es keinen anderen gab. Die Dekade zwischen 2001 und 2011 wäre für die Afrikanische Union (AU) – den zweiten großen Staatenbund nach der Organisation für Afrikanisch Einheit (OAU) – anders verlaufen, vielleicht nie zustande gekommen, hätte es den missionarischen Mentor aus Tripolitanien nicht gegeben. Als Randstaat im arabischen Nordafrika verschrieb sich Libyen bis zuletzt mit gläubiger Energie und unglaublichem finanziellen Aufwand der Integration seines Kontinent. Weder der Kenianer Jomo Kenyatta noch der Senegalese Léopold Senghor noch Nelson Mandela – um nur einige der historischen Führer Afrikas zu nennen – kam je auf die Idee, Vereinigte Staaten von Afrika auszurufen. Oberst Gaddafi tat es am 9. September 1999 in Sirrte. Und gab den überzeugten Panafrikaner, der erhobenen Hauptes einem gescheiterten Panarabismus zu entkommen suchte.

Als er seine Proklamation verlas, erinnerte man sich des Zeremoniells von Khartum gut 30 Jahre zuvor, am 8. Juni 1970. Gaddafi, damals 28 und noch kein Jahr im Amt, beschwor zusammen mit den Präsidenten Gamal Abdel Nasser und Dschafar an-Numairi den Zusammenschluss Libyens mit Ägypten und dem Sudan. Diese Union – mehr Blendwerk ihrer Schöpfer als realpolitische Größe – hatte ausgedient, als Nasser drei Monate später überraschend starb und Nachfolger Sadat wenig Neigung verspürte, mit dem Libyer weiter Bruderküsse zu tauschen. Gaddafi hielten diese und andere Enttäuschungen nicht davon ab, nach Sirrte zu gehen und einen neuen, diesmal panafrikanischen Anlauf zu nehmen.

Hohepriester der Entrückung

Als im sambischen Lusaka Mitte 2001 ein letzter Gipfel die Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) der Geschichte überließ und die Transformation zur Afrikanischen Union (AU) besiegelt war, kursierte unter den 53 Delegationen ein „Konstitutivakt“ , der viel versprechender kaum sein konnte. Man wollte tatsächlich aufbrechen zu Vereinigten Staaten von Afrika. Es sollte Vorstufen geben, gegen die vier Jahrzehnte OAU wie ein bescheidenes Vorspiel wirkten: die AU wollte ein gemeinsames Parlament (das es heute im südafrikanischen Midrand gibt), eine gemeinsame Währung, eine gemeinsame Armee, die Afrikanische Zentralbank, einen Afrikanischen Gerichtshof. Das institutionelle Muster EU schien unverkennbar, als sollte auf dieser Weise beteuert werden: Gaddafi will als einer der Schirmherren dieser Integration kein weltenferner Visionär mehr sein, den die Utopien für das Machbare entschädigen.

Wenig überraschend wurde Südafrikas Präsident Thabo Mbeki 2002 zum ersten AU-Vorsitzenden gewählt, während Gaddafi nicht einmal den Versuch unternahm, sich für dieses Amt zu empfehlen. Sein Bekenntnis zu Afrika stand trotz aller Leidenschaft im Geruch des taktischen Manövers. Die libysche Volks-Dschamahirija rangierte bis 2006 im US-Ranking der Schurken-Staaten nicht eben weit hinter Somalia, Sudan und Iran, denen Beihilfe zum internationalen Terror unterstellt wurde. Die Afrikanische Union konnte helfen, der Ächtung zu entgehen, das Stigma begangener Verbrechen (man denke an den Libyen zur Last gelegten Anschlag auf ein US-Flugzeug über Lockerbie 1988) zu überschminken und im Westen auf Rehabilitierung zu rechnen. Gaddafi sollte sich damit nicht verkalkuliert haben.

Als es soweit war, und die Afrikanische Union den „Bruder Oberst“ 2009 in Addis Abeba zum Präsidenten für ein Jahr wählte, zeigte der sich in gold-besticktem Brokat und mit goldener Haube wie ein gekrönter Monarch, erzählte vom Ende der Mäßigung und zugleich von sich selbst. Die Sehnsucht nach Travestie schien Grenzen zu sprengen – der Pfau als Gottheit und Hohepriester der Entrückung, der Revolutionsführer als Narziss, nicht im Beduinen-Zelt, sondern auf dem Thron. Muammar al-Gaddafi wollte als panafrikanischer Fürst genießen, was ihm als panarabischer Führer verwehrt blieb. Er wurde erhöht und konnte es auskosten, er bat darum, „König der traditionellen Könige“ genannt zu werden. Niemand von seinen afrikanischen Brüdern widersprach – keiner tat es.

Doch was Muammar al-Gaddafi seinem Kontinent empfahl, war bei aller Attitüde dem Zeitgeist verwandt. Es traf sich mit Thabo Mbekis „afrikanischer Renaissance“ oder einem Millennium Partnership for the Revival of Africa, dem sich außer dem Erben Mandelas im südafrikanischen Präsidentenamt auch der damalige nigerianische Staatschef Olusegun Obasanjo nicht verschließen mochte. Beide deuteten Renaissance als ein Erwachen, das sich vergessener Epochen der afrikanischen Kultur versicherte, aber ebenso die „zweite Befreiung“ des Kontinents vorantrieb, um Entkolonisierung und Unabhängigkeit zu vollenden. Es gab um die Jahrtausendwende eine Zeit der neuen Führer wie Yoweri Museveni in Uganda, Laurent-Desiré Kabila im Kongo, Jerry Rawlings in Ghana oder Paul Kagame in Ruanda, die als Rebellen aus dem Untergrund kamen, um kleptomanische Herrscher zu stürzen und eine epidemische Korruption durch Good Governance auszubooten.

Die neuen Führer

Zeitweilig verkörperten diese Männer die Aussicht auf eine afrikanische Perestroika. Gaddafi traf sich mit Thabo Mbeki beim Schlachtruf des ANC: The people shall govern! (Das Volk soll regieren), allerdings verstanden beide darunter, das Recht einer Avantgarde, im Namen des Volkes dasselbe zu führen. Gaddafis 1979 veröffentlichtes Grünes Buch hatte bei allem emanzipatorischen Furor keinen Zweifel gelassen, dass es nur einer revolutionären Elite vorbehalten sein konnte, ins Werk zu setzen, was er sich vorstellte. Ist ihm das anzukreiden? Sind nicht auch Museveni, Kabila, Rwalings oder Kagame – zu Machthabern aufgestiegen – bald der Überzeugung erlegen, nur als aufgeklärte Autokraten ihren Ideen, Staaten und Völkern dienen zu können? The people shall govern. Wer will schon die Parole verdammen, wenn nur das Volk nicht Gefahr läuft, sich selbst überlassen zu bleiben?

Heute ist die Afrikanische Union längst über Absichtserklärungen hinaus, es gibt das erwähnte Parlament, eine AU-Kommission und seit 2003 einen AU-Sicherheitsrat, der Peace-Keeping-Missionen in Mitgliedsstaaten sanktionieren kann, wenn sich dort Putschisten die Macht verschaffen, Bürgerkriege ausbrechen oder ein Völkermord droht. So steht ein AU-Kontingent seit Ende 2004 im sudanesischen Darfur, ist derzeit die Elfenbeinküste aus der Staatenunion suspendiert, weil sich Präsident Laurent Gbagbo weigert, Wahlsieger Alassane Ouattara endlich das höchste Staatsamt zu überlassen.

Und Muammar al-Gaddafi, der Panafrikaner? Er wird von Entscheidungen eingeholt, die er für die AU einst mit getroffen, möglicherweise inspiriert hat. Als die Pioniere der neuen Gemeinschaft 2001 die Geburtsurkunde formulierten, war in Artikel 4 h des Konstitutivaktes die Rede vom Recht der Union, „in einem Mitgliedsland zu intervenieren und zwar im Hinblick auf schwerwiegende Umstände, namentlich Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Nicht im Traum dürfte Gaddafi seinerzeit daran gedacht haben, dass ihn das eines Tages selbst treffen und bedrohen könnte.

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