Der lange Hebel

EU-Sondergipfel Die Türkei weiß, wie sehr sie von der EU zur Flüchtlingsabwehr gebraucht wird und dreht noch ein bisschen an der Preisschraube
Aus Seenot gerettete Flüchtlinge soll die Türkei künftig zurücknehmen müssen
Aus Seenot gerettete Flüchtlinge soll die Türkei künftig zurücknehmen müssen

Foto Aris Messinis / AFP - Getty Images

Kurz vor dem Sondergipfel mit der EU tut sich die türkische Führung keinen Zwang an. Sie führt die Gastgeber in Brüssel nach Herzenslust vor, um zu zeigen, wer Herr des Verfahrens ist. Für den politischen Nulltarif will Ankara nicht zu haben sein, wenn es sich von Europa als Bollwerk zur Flüchtlingsabwehr einspannen lässt. Also ist man um den einen oder anderen Affront nicht verlegen und dreht an der Preisschraube. Dass eine große Zeitung wie Zaman in Istanbul nicht nur unter Kuratel gestellt, sondern deren Redaktion von der Polizei auch noch gestürmt wird, verstößt gegen elementare Regeln der Pressefreiheit. Wer so handelt, sollte als EU-Beitrittsaspirant ausgesorgt haben. Muss die türkische Regierung damit rechnen, dass ihr solches widerfährt?

Tatsächlich denkt in Brüssel oder Berlin niemand daran, Willkür als Werteverstoß zu ahnden. Die deutsche Regierung meidet jeden Hauch von Kritik. Nur ist es in der Politik wie im wahren Leben, wer sich einmal erpressen lässt, ist immer wieder erpressbar. Daher kann es sich Tayyip Erdoğan leisten, die Bedingungen zu diktieren, unter denen er Flüchtlinge abfängt und aufhält, weil es sich die EU – derzeit ohnehin schwer zerstritten – nicht leisten kann, ihn wegen seiner autokratischen Gebaren in die Schranken zu weisen. Er will, dass schon bald 80 Millionen türkische Bürger ohne Visum in der EU reisen können und durch erweiterte Beitrittsverhandlungen eine Art Freifahrtschein nach Europa ausgestellt wird. Man erkennt folgendes Muster, je fordernder die AKP-Regierung aufritt, desto devoter reagieren die EU-Spitzen, ob sie nun Tusk, Juncker oder Merkel heißen.

Sie tolerieren, dass Kurden-Gebiete in Nordsyrien von der türkischen Armee angegriffen werden, dass gegen Teile der kurdischen Bevölkerung in der Türkei Krieg geführt wird, dass der IS in der Türkei weiter Erdöl verkaufen, Rüstungsnachschub erhalten und Kombattanten rekrutieren kann. Wer das sämtlich toleriert, konterkariert die erklärte Absicht, Fluchtursachen zu bekämpfen – der schafft neue. 200.000 Kurden sollen bereits aus den Kampfzonen in Südostanatolien geflohen sein. Auch wird die Fluchtbewegung aus Syrien schwerlich abnehmen, wenn die türkischen Armee ihren Krieg gegen die syrischen Kurden fortsetzt.

Die Paradoxie des Vorgangs hat es verdient, ausgeleuchtet zu werden: Ausgerechnet dann, wenn der Bruch mit dem sogenannten europäischen Wertekanon offensichtlicher nicht sein kann, wird der Türkei die Aufnahme in die Wertegemeinschaft EU in Aussicht gestellt.

Es gibt dafür nur zwei Erklärungen, entweder ist Europa in einer solchen Bittstellerrolle, dass Selbstverleugnung unerlässlich ist, um erhört zu werden. Oder jener Wertekanon ist eine idealistische Schrulle, auf die man sich beruft, wenn's gerade passt, um etwa Russland zu maßregeln.

Partner und Puffer

Dabei sind die gerade von deutscher Seite erhofften Gegenleistungen für die Ankara erwiesene Konzilianz bisher kaum erbracht. Die Türkei ist nicht in dem Maße Pufferstaat für Flüchtlinge, wie das vor allem Griechenland entlasten würde. In den Monaten Januar und Februar haben etwa 120.000 Menschen die Ägäis überquert, dreißigmal mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Noch immer sollen pro Tag im Schnitt Tausende von Hilfesuchenden die Überfahrt wagen.

In Berlin werden wohl auch deshalb – wie schon beim Europäischen Rat am 18./19. Februar – die Erwartungen für das Brüsseler Sondertreffen mit der Türkei gedämpft: eine Kontingentlösung als Verhandlungsziel sei auszuschließen, heißt es. Dabei steht unverrückbar fest, dass beim Merkel-Plan zur Sicherung der EU-Außengrenze die Türkei als der „zentraler Partner“ mitspielen muss, wenn dieser Plan funktionieren soll.

Das bedeutet zunächst einmal, die EU muss Ankara mit drei Milliarden Euro alimentieren. Die Frage wird sein, ob sich die AKP-Regierung – wie bei EU-Fördermitteln üblich –, darauf einlässt, dass es einen projektbezogenen Einsatz dieser Gelder gibt, zum Beispiel für Flüchtlingsunterkünfte, Wasseraufbereitungsanlagen, Schulen und Krankenstationen. (Warum gibt man diese Gelder nicht dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das sich um syrische Flüchtlingslager im Libanon, in Jordanien – und der Türkei kümmert?)

Der türkische Premier Ahmet Davutoğlu hat bisher immer geltend gemacht, dass man nur dann Auffanglager sein werde, wenn garantiert sei, dass der Türkei pro Jahr 200.000 bis 300.000 Flüchtlinge abgenommen werden, die nach Europa weiterreisen dürfen. Wenn das so sein soll, ist innerhalb der EU ein ausgehandelter Verteilungsmodus unerlässlich ist. Doch von dem kann nach wie vor keine Rede sein.

Riegel und Regel

Weil das so ist, weil Flüchtlingsabwehr im Vordergrund steht, um die EU wenigstens einigermaßen zusammenzuhalten, wird dem Puffer Türkei noch ein Riegel in der Ägäis vorgeschoben, sprich: eine NATO-Seemission parallel zum EU-Sondergipfel am 7. März gestartet.

Zehn Kriegsschiffe unter deutschem Kommando sollen Menschenhandel und Schlepper bekämpfen. Auf wundersame Weise wird mit dieser Operation die im April 1999 beschlossene NATO-Strategie um eine Anwendung angereichert. Als sich das Bündnis seinerzeit neue Aktionsfelder zugestand, um neuen Risiken begegnen zu können, wurden als solche benannt: „Akte des Terrorismus, der Sabotage und des organisierten Verbrechens sowie die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Interessen“. Vom Risiko „Menschenhandel“ und der Aufgabe Grenzsicherung fand sich nichts im damaligen Strategiepapier.

Zu Letzterem aber wird es kommen mit der Ägäis-Mission. Sie wird eine Erklärung dafür sein, warum im Entwurf der Abschlusserklärung des Gipfel vom 7. März die Formulierung steht: Die Balkan-Route ist geschlossen. Diese Schließung beginnt schon in der Gewässern zwischen der Türkei und Griechenland. Was heißt das? Die EU gesteht damit endgültig ein, an einer humanitären Krise gescheitert und einer humanitären Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Das Fazit legt den Schluss nahe, dass die Türkei eigentlich ganz gut zu dieser Staatenunion passt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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