Versteigt sich der UN-Generalsekretär zu zweifelhafter Selbstermächtigung, wenn er – wie in den letzten Tagen geschehen – UN-Soldaten in der Elfenbeinküste befiehlt, schwere Waffen einzusetzen und einen innerstaatlichen Konflikt zu entscheiden? Ende Dezember hat der UN-Sicherheitsrat durch Resolution 1962 das Mandat für die Mission ONUCI in Westafrika verlängert und das 10.000-Mann-Korps aus 50 Staaten zum Peace Enforcement autorisiert: um Truppenbewegungen zu verhindern, Kriegsparteien zu trennen, Zivilisten zu schützen. Ban handelte insofern mandatskonform. Er ordnete an, was ihm geboten schien.
Dennoch irritiert der Eindruck – der UN-Generalsekretär als Truppenkommandeur, der Diplomat ein Feldherr? Doch Ban hat weder sein Amt missbraucht, noch Kompetenzen überschritten, sondern profitiert mit seinem exponierten Status von der Tatsache, dass UN-Operationen wie in der Elfenbeinküste seit jeher auf Instrumentarien verzichten, wie sie ihnen die UN-Charta vorschreibt. Deren Schöpfer wollten einst für Militärmissionen einen Generalstabsausschuss eingesetzt sehen, den laut Artikel 47 die Generalstabschefs der Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zu rekrutieren hatten. Dieses Gremium sollte „unter der Autorität des Sicherheitsrates verantwortlich sein für die strategische Führung aller Streitkräfte, die zur Verfügung des Sicherheitsrates gestellt sind“. Dazu kam es nie, da schon in der Frühzeit der UN ihr bewaffnetes Eingreifen im Korea-Krieg (1950-1953) oder während der Kongo-Krise (1960-1964) nie durch einen Konsens des Sicherheitsrates besiegelt war. Als Truppensteller gebetene Mitgliedsstaaten schickten Soldaten – deren Befehlshaber handelten offiziell im UN-Auftrag, entschieden aber als selbstständige Militärführer. Der Generalstabsausschuss als Scharnier zwischen Sicherheitsrat und Feldkommando entfiel und damit eine „strategische Führung“, die nach außen dokumentieren konnte: Auch wenn Staaten mit einem Mandat der UN Truppen einsetzen, das Gewaltmonopol bleibt bei den Vereinten Nationen.
Intervention neuen Typs
Ein Generalstabsausschuss – hätte es ihn je gegeben – wäre als Kontrollinstanz des Sicherheitsrates dazu verpflichtet gewesen, jede Militärmission auf Mandatstreue zu prüfen. Er hätte vermutlich auch dafür gesorgt, Fehlschläge wie bei der UN-Präsenz in Somalia (UNOSOM/1992-1994) zu vermeiden. Deren Oberkommando lag seinerzeit bei den USA, die Somalia als idealen Testfall für eine Intervention neuen Typs betrachteten. Erstmals in der UN-Geschichte war aus humanitären Gründen (Nahrungsmittelhilfe) von vornherein nicht Friedenswahrung (Peace keeping) gefordert, sondern bewaffnete Friedenserzwingung (Peace Enforcement) erlaubt. Ein Präzedenzfall, bei dem die Amerikaner freilich scheiterten, weil sie sich in einem blutigen Guerilla-Krieg mit einheimischen Milizen aufrieben. Dennoch schlug mit UNOSOM die Geburtsstunde der schon semantisch missglückten „humanitären Intervention“, deren Muster man in der UN-Charta vergeblich sucht.
Als der Südkoreaner Ban Ki-moon im Januar 2007 das Amt des UN-Generalsekretärs antrat, war dieser Präzedenzfall vorübergehend von einer bitteren Erfahrung verdrängt. Die UN hatten 2003 den Irak-Kriegt nicht verhindern können, waren aber dazu vergattert, den Scherbenhaufen zu beseitigen, der von den USA hinterlassen wurde. Die Vereinten Nationen wie das Rote Kreuz zur humanitären Nachsorge bestimmt, wenn andere imperiale Obsessionen ausleben. UN-Generalsekretär Kofi Annan hat darunter sichtbar gelitten – sein Nachfolger Ban Ki-moon entschied sich dafür, den Beweis anzutreten: Die UN sind größer, handeln effizienter und bewirken mehr als jedes Imperium, wenn sie als Global Player eine weltpolitische Gewichtszunahme nicht scheuen.
Staat gleich Regime
So erfährt die Weltorganisation derzeit eine Metamorphose, die aus einer multilateralen Friedens- eine globale Ordnungsmacht werden lässt. Für die muss es kein Tabu sein, staatliche Souveränität zu brechen. Wenn Präsident Obama der unilateralen Hybris eines George W. Bush abschwören konnte, dann auch im Bewusstsein dieses Wandels. Der führt dazu, dass der Sicherheitsrat mehrheitlich kaum noch Skrupel kennt, Weltordnungspolitik gegebenfalls als Machtpolitik zu betreiben, wie das Beispiel Libyen zeigt. Wer militärisch in einen inneren Konflikt wie diesen eingreift, um ihn zu entscheiden, verlässt das Rechtsgebäude der UN-Charta. Der folgt dem zweifelhaften Prinzip: Das Regime ist der Staat. Um das Regime abzuschaffen, darf uns der Staat nicht stören. Als Völkerrechtssubjekt hat er ausgedient. Seine Rechte sind Komplizen des Regimes und dürfen verletzt werden. Dabei verfällt nicht nur das Gewaltverbot als Grundnorm des Völkerrechts fakultativem Gebrauch, dadurch werden die UN zu einem von Interessen gelenkten Staatenbund, der sich nicht länger von NATO, OAS oder APEC unterscheidet – dann kann der Auftrag begraben werden, „künftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“, wie es in der Präambel der UN-Charta heißt.
Ban Ki-moon zahlt für diese weltpolitische Exposition der UN einen hohen Preis – er opfert das Prinzip der Gleichheit und Autonomie aller Staaten. Er beschädigt die rechtliche Autorität der Vereinten Nationen, die sie benötigt, um über den Staaten zu stehen, indem sie allen Staaten gleiche Rechte zuerkennt. In der Konsequenz wird jene völkerrechtliche Zäsur in Frage gestellt, die einst mit der Atlantik- und der UN-Charta gesetzt war: Das Gewaltmonopol des einzelnen Staates auf eine Staaten- und Völkergemeinschaft zu übertragen. Unter Ban ist die Gemeinschaft dabei, dieses Monopol machtpolitisch einzufärben. Ein Rückfall in die Zeit vor dem Völkerbund.
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