Helmut Kohl gehörte zur zweiten Gründungsgeneration der Bundesrepublik Deutschland. Die erste war nur dünn besetzt gewesen – Politiker aus der Weimarer Republik, die 1945 noch einmal anfingen: Konrad Adenauer und Kurt Schumacher. Auch Ludwig Erhard, der erst nach Kriegsende ins öffentliche Leben eintrat, zählte dazu.
Seine Breite aber gewann der Aufbruch in Ost und West durch die weitgehend zwischen 1928 und 1931 Geborenen: zu jung, um diskreditiert zu sein, alt genug, um schnell herangezogen zu werden. Legendär ist der Jahrgang 1929: Vom Dichter Hans Magnus Enzensberger über den Journalisten Günter Gaus, den Philosophen Jürgen Habermas bis zum Fußballer Helmut Rahn. Helmut Kohl, geboren am 2. April 1930 in Ludwigshafen am Rhein, nur wenige Monate jünger als diese 29er, gehört dazu. Die soziale Herkunft spielte damals keine große Rolle – sein Vater war Finanzbeamter, die Familie katholisch-konservativ –, wichtiger war es, sofort an der Stelle zu sein, die den eigenen Neigungen und Begabungen entsprach, Plätze waren genug frei.
Helmut Kohl trat als Siebzehnjähriger der CDU zum frühest möglichen Zeitpunkt bei: 1946, als überhaupt Parteien wieder zugelassen waren. 1947 war er Mitbegründer der Jungen Union. Er studierte formell das Naheliegende: Jura, und wohl eifriger das, was ihn mehr interessierte: Politik (hier im Fach Geschichte). Kohls Dissertation von 1958 hat den Titel: Die politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945.
Auf der Ochsentour
Kohls Anfänge in einem Brotberuf waren wirtschaftsnah: zunächst Direktionsassistent einer Eisengießerei, 1959 Referent beim Verband der Chemischen Industrie, die in seiner Heimatstadt Ludwigshafen mit der Badischen Anilin- und Sodafabrik einen ihrer bedeutendsten Standorte hat.
Da war Kohl aber schon längst auf der politischen Ochsentour: Mandate im Stadtrat von Ludwigshafen, Funktionen in der CDU und in der Jungen Union in Rheinland-Pfalz, ab 1959 Mitglied des Landtags, 1963 dort Fraktionschef, 1969 Ministerpräsident. 1966 kam er in den Bundesvorstand seiner Partei.
Kohl war immer einer der Jüngsten. Der hochgewachsene, zwar kräftige, aber noch schlanke Mann wirkte sportlich und souverän. Als er 1969 den schon seit 1947 amtierenden Ministerpräsidenten der CDU, Peter Altmeier, ablöste, galt das als ein Zeichen des Aufbruchs: Kohl hatte das Image eines Neuerers. Er bestätigte dies durch eine allgemein als gelungen bewertete Verwaltungsreform.
1973 wurde er Bundesvorsitzender der CDU, und er baute die Partei um. Seit Adenauer war sie aus dem Bundeskanzleramt geführt worden. Auf den Ebenen darunter war sie eine Honoratioren-Organisation gewesen. Jetzt erst erhielt sie eine leistungs- und mobilisierungsfähige innere Struktur. Kohl bewies eine feine Nase für intellektuelle Kapazitäten, die mitbrachten, was ihm in der öffentlichen Wahrnehmung fehlte: Kurt Biedenkopf, Heiner Geissler, Horst Teltschik, Richard von Weizsäcker.
In der Bundestagswahl 1976 erzielte er als Kanzlerkandidat gegen Helmut Schmidt das zweitbeste CDU-Resultat seit Bestehen der Bundesrepublik. Er wechselte von Mainz als Oppositionsführer nach Bonn. In den Folgejahren musste er sich der Attacken von Franz Josef Strauß erwehren, der zeitweise mit einer Ausdehnung seiner Partei auf das gesamte Bundesgebiet drohte. Daraus wurde nichts: Kohl konterte mit der Aussicht auf eine CDU-Gründung in Bayern. Von Rainer Barzel, seinem Vorgänger als Parteivorsitzender, und von Strauß unterschied er sich durch die Fähigkeit, warten zu können, mochte ihm auch in jenen Jahren der Makel des hoffnungsarmen Kandidaten anhängen, der wohl nie Kanzler werde und sich darauf beschränken müsse, seine Partei in der traurigen Oppositionszeit zusammenzuhalten. Schmidt führte ihn im Bundestag vor, Kohl galt als der tollpatschige Provinzler, der einigen Fernsehzuschauern schon leid tat.
Gescheiterter Putsch
Dass er 1980 nicht mehr Kanzlerkandidat wurde und Strauß den Vortritt lassen musste, nützte ihm. Die breite Mobilisierung gegen den Linkenschreck aus Bayern ließ diesen scheitern und zeigte, dass er es nie schaffen könne. Damit war der Weg für Kohl frei, als die FDP 1982 die Seiten wechselte. Nur wenige trauten ihm damals zu, dass er sich lange werde halten können. Die Intellektuellen verlachten ihn als „Birne“. Sie fahndeten nach seiner Doktorarbeit und mussten enttäuscht feststellen, dass sie gut war. Die Marktradikalen um den FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff waren enttäuscht. Für sie war Kohl der Aussitzer, der nicht genug für die Senkung von Steuern und Lohnnebenkosten sowie einen verschlankten Staat tat. Zunehmende Leibesfülle schien Unbeweglichkeit zu symbolisieren. Man übersah, dass er nichts anbrennen ließ: die Stationierung der neuen NATO-Raketen, mit der Schmidt in seiner Partei gescheitert war, setzte Kohl durch. Er gewann zwei Wahlen, 1983 und 1987.
1989 wurde ein innerparteilicher Putsch geplant. Lothar Späth hatte sich darauf vorbereitet, Kohls Nachfolger zu werden. Auf dem Parteitag im September sollte der entscheidende Schlag geführt werden. Den Frondeuren war unbekannt, was Kohl wusste: Am 25. August hatte ihn eine ungarische Delegation unter Leitung des Ministerpräsidenten Miklós Németh besucht und um finanziellen Beistand, besonders durch Fürsprache beim IWF, gebeten. In der Nacht vom 10. auf den 11. September wurde die Grenze zwischen Ungarn und Österreich für Übersiedlungswillige aus der DDR geöffnet. Als am Vormittag der CDU-Parteitag eröffnet wurde, war Kohl gerettet. Der 9. November 1989 war das Nachspiel.
19 Tage lang ließ sich Kohl wieder einmal Untätigkeit vorwerfen. Am 28. November legte er einen Zehn-Punkte-Plan zur deutschen Einheit vor, der recht langfristig angelegt war. Es galt, Bedenken des französischen Präsidenten Mitterrand und der britischen Premierministerin Thatcher Rechnung zu tragen: es ging um die europäische Einbindung des künftigen Gesamtdeutschland. Als es dann doch schneller ging als zunächst vermutet, sah das so aus, als folge Kohl nur noch sorgsam steuernd dem stürmischen Wunsch der Massen in Ostdeutschland. In Wirklichkeit packte er zu: mit der raschen Einführung der DM in der DDR setzte er sich über den Widerspruch des Präsidenten der Bundesbank hinweg-– Primat der Politik. Den von Mitterrand und dem italienischen Ministerpräsidenten Andreotti geforderten Preis für die deutsche Einheit – Einführung des Euro – hat er loyal gezahlt, zumal die Bundesrepublik dadurch nicht eingeengt, sondern sogar noch dominanter wurde. 1990 und 1994 feierte Kohl triumphale Wahlsiege.
Vergleich mit Bismarck
Die Beschäftigung mit den ganz großen außenpolitischen Themen half ihm, sich nicht um einen gestutzten Sozialstaat kümmern zu müssen, der seit 1982 von ihm gefordert wurde. In der zweiten Hälfte der 80er Jahre ist ihm dies immer heftiger vorgeworfen worden. 1998 wurde er abgewählt.
Ein Jahr später folgte die auch moralische Demontage. Es kam heraus, dass Helmut Kohl 2,1 Millionen DM anonyme Spenden für die CDU angenommen hatte. Die Namen seiner Sponsoren gab er nie preis. Dafür habe er diesen sein Ehrenwort gegeben. Als der CDU daraufhin die Wahlkampfkosten-Erstattung gestrichen wurde, ging er, um den Schaden auszugleichen, sammeln und erzielte dabei Einnahmen von sechs Millionen Mark. Eine andere Version, die teils auf Andeutungen Wolfgang Schäubles zurückgeht, lautet, die anonymen Spender habe es nie gegeben. Das Geld stamme vielmehr aus Konten im Ausland. Um diese zu verschweigen, habe Kohl Zuflucht zur Spender-Variante genommen.
Nach Bismarck ist Kohl der zweite Kanzler der deutschen Einheit geworden. Der Vergleich zeigt vor allem Unterschiede. Bismarck hatte ein von ihm erdachtes und exekutiertes Konzept: Verfassungsbruch zwecks Aufrüstung der preußischen Armee, Hinausschießen Österreichs aus Deutschland, der Waffengang mit Frankreich als Abschluss des Nation-Building. Auch Adenauer war ein strategischer Kopf: Westintegration, Überrüstung der Sowjetunion, Einheit. Kohl, dem glücklichen Epigonen, fehlte all dies. Es genügte, dass er wiederholte, was Adenauer schon gefordert hatte, so zum Beispiel, wenn er noch vor Helmut Schmidts Initiative zur Stationierung neuer Mittelstreckenraketen darauf drang, dass der Westen den Rüstungswettlauf durchhalten solle, „welches Tempo er auch immer annehmen und welche Aufwendungen er auch immer erfordern wird.“ Der Preis einer militärischen Überlegenheit müsse so hochgedrückt werden, dass er für die Sowjetunion nicht mehr erschwinglich sei. So meldete es im Juli 1976 die FAZ, und so geschah es.
Ein halbes Jahr nach Kohls Sturz beteiligte sich Deutschland am völkerrechtswidrigen Überfall auf Jugoslawien. Es folgten die Agenda 2010 und Hartz IV. Im Nachhinein erscheint Helmut Kohl so – jetzt aber wirklich ohne sein Zutun – als der letzte Kanzler einer Bundesrepublik des rheinischen Kapitalismus, von deren Boden noch kein Krieg ausgegangen war.
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