Der Störfall

Friedensappell 60 Prominente aus Politik, Kunst und Wirtschaft hadern mit der Russland-Politik der Bundesregierung. Sie werden entweder ignoriert oder als verstiegen gemaßregelt
Ausgabe 50/2014
Die Bundeswehr bei einer Truppenübung in der Westukraine
Die Bundeswehr bei einer Truppenübung in der Westukraine

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Dissidenten laufen Gefahr, als Abweichler geschmäht zu werden. In diesem Fall wäre das freilich gewagt. Die mehr als 60 Unterzeichner des Aufrufs „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!“ sind einfach zu hochkarätig, als dass man sie wie Unruhestifter zur Ordnung rufen könnte. Ihren Appell, man möge sich in der Bundesregierung zu einer neuen Entspannungspolitik mit Russland aufraffen, darf man getrost als Zeichen des Unmuts oder der Sorge über den Umgang mit der Großmacht im Osten verstehen.

Hier artikuliert sich keine der professionellen Politik entrückte Öffentlichkeit, sondern ein Teil der politischen Klasse und des Lagers, aus dem die Kanzlerin stammt: Horst Teltschik war Kanzlerberater Helmut Kohls und federführend bei der Wiedervereinigung 1990, der Jurist Roman Herzog von 1994 bis 1999 Bundespräsident, der CDU-Politiker Eberhard Diepgen Regierender Bürgermeister von Berlin. Sie haben genauso unterschrieben wie Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der frühere SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, der letzte DDR-Premier Lothar de Maizière, die Schauspieler Klaus Maria Brandauer und Mario Adorf oder der Industrielle Eckhard Cordes. Ihr Leumund verbietet es, sie als nützliche Idioten Wladimir Putins abzukanzeln. Was sie zu sagen haben, trifft zu und erschüttert zugleich: Amerikanern, Europäern und Russen sei der Leitgedanke verloren gegangen, einen Krieg dauerhaft aus ihrem Verhältnis zu verbannen. Nur beginnt eben die Alternative – aktive Friedenspolitik – immer damit, die Bomben im eigenen Kopf zu entschärfen und Auswege aus Konfrontationen zu suchen, die auch für die andere Seite begehbar sind. Stattdessen verliert sich Deutschland in einem verbissenen Kräftemessen mit Russland, als sollte der Kalte Krieg ein zweites Mal gewonnen werden. Nun aber endgültig. Und dann? Werden sich die Russen reumütig hinter den Ural verkriechen?

Wie Angela Merkel seit Wochen den Ton gegenüber Moskau verschärft und Verständigungsforen wie den Petersburger Dialog blockiert, nährt den Eindruck, dass der Ukraine-Konflikt mehr denn je ein Vehikel ist, um Russland zu domestizieren. Vielleicht haben sich die Initiatoren des Aufrufs deshalb gerade jetzt zu Wort gemeldet. Die Kanzlerin wirft Putin neuerdings vor, nicht nur die Krim und den Donbass, sondern auch den Westbalkan unter seine Fuchtel bringen zu wollen. Dabei weiß jeder politisch halbwegs beschlagene Zeitgenosse, dass Staaten wie Serbien traditionell gute Beziehungen mit Russland pflegen und diese gern als Faustpfand gebrauchen, um beispielsweise eine EU-Aufnahme zu beschleunigen. Was also soll Merkels pädagogisierender Narzissmus, dem der Sinn für Realpolitik fehlt? Wer kann so verstiegen sein, Russland eine Außenpolitik anzukreiden, die den eigenen Vorteil sucht, vor der Haustür, in Osteuropa oder sonst wo?

Hielt man es in Warschau, Riga oder Tallinn anders, als die NATO-Aufnahme anstand? Der Aufruf „Wieder Krieg in Europa?“ wird von den Berliner Regierungsparteien wie der grünen Spitze mit Befremden quittiert, anstatt über den Tag hinauszudenken. Es gibt erneut den Versuch, einer Waffenruhe zwischen den Aufständischen in der Ostukraine und der ukrainischen Armee Geltung zu verschaffen, diktiert von Winter und Erschöpfung. An den Ursachen des Konflikts ändert das nichts. Die teils verstörende Polemik gegen das Anti-Kriegs-Papier von Politikern, Unternehmern und Künstlern zeigt an, warum das so ist.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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