Am Vormittag des 10. November 2001 wird Algier von einer Sintflut heimgesucht. Innerhalb von Stunden stürzt heftiger Dauerregen ganze Stadtteile in ein Wassergrab. Die Flut reißt mit, was sich ihr in den Weg stellt - Menschen, Autos, Häuser, Geschäfte, Marktstände und wieder Menschen. Das populäre Viertel Bab el Oued ist besonders betroffen. Die Katastrophenlandschaft in der Stadt erscheint wie ein Sinnbild der Apokalypse, die Algerien seit einem Jahrzehnt durch den islamistischen Terror widerfährt.
Kurz bevor sie starb", erzählt Mohammad Siam, "sagte unsere Großmutter, es wird ein Wasser kommen, wie ihr es noch nie im Leben gesehen habt, es kommt ein Regen, der alles mitnimmt."
Für ihren Film Algier, drei Monate nach der Sintflut hat die algerische Regisseurin Malika Chalabi mit Überlebenden des 10. November gesprochen - mit Mohammad Siam aus Bab el Oued, mit Fatima Kifon, die ihren Sohn verlor, mit Mohammad Ibrahimi aus den Bidonvilles.
Am 10. Februar 2002, drei Monate nach der Sintflut, verzeichnet die offizielle Statistik 735 Tote. Nicht mit gerechnet sind die noch immer Vermissten, die unter dem Schlamm Begrabenen, die ins Meer Gespülten, die von einstürzenden Häusern Erschlagenen.
Drei Monate nach der Sintflut wird von den Räumkommandos - nicht ohne einen gewissen Stolz - erzählt, sie hätten bereits doppelt soviel Schutt abgetragen als in New York mit dem Anschlag auf das World Trade Center entstanden sei.
Mohammad Siam - die Schwester
Es hat sich viel verändert bei uns, wir sind jetzt so wenige - nur noch meine Mutter, mein Vater, meine kleine Schwester und ich. Meine andere Schwester habe ich bis heute nicht wiedergefunden. Ich habe sie noch gesehen, als sie abtrieb. Sie stand auf dem Balkon. Als das Haus eingestürzt ist, kam sie nicht wieder hoch. Mich hat das Wasser wieder hoch gerissen und bis ans Meer gespült, wie, weiß ich nicht.
Es war Schicksal.
Wer mich gerettet hat? Gott! Und dann bin ich zu Fuß ins Hospital.
Dort bin ich ins Koma gefallen.
Ich habe später geträumt, ich hätte einen Zahn verloren. Der war so groß, wie ich noch nie im Leben einen Zahn gesehen habe, ich habe diesen Traum niemanden erzählen wollen - der Zahn, das ist der Tod.
Algier ist nach dem 10. November 2001 nicht nur verwundet, es ist auch verwundbarer geworden. Der Regen, die Überschwemmung, die Schlammlawinen - alles kann sich jederzeit wiederholen. Die Kanalisation wird es nicht verhindern. Gerüchte besagen, dass Kanäle, Kammern und Katakomben unter der Stadt Ende der neunziger Jahren zubetoniert wurden, um islamistischen Kommandos die Fluchtwege abzuschneiden. Nicht zufällig hat der Krieg im Land der Massaker gerade unter der Stadt seine Spuren hinterlassen. Was das bedeuten kann, hat der 10. November gezeigt.
Auf einem Friedhof an der Peripherie von Algier stehen seit Woche die Zelte von Staatsanwälten und Gerichtsmedizinern - ein Anlaufpunkt für die Familien der Verschwundenen, die hierher kommen, um anhand von Fotos Angehörige zu identifizieren, deren Leichen geborgen wurden.
Fatima Kifon - der Sohn
Als sie mir das Bild zum ersten Mal zeigten, da habe ich gesagt, das hier, das ist niemals mein Sohn. Ich habe ihn an jenem Morgen, als es passierte, noch verabschiedet. Ich habe ihm einen Kaffee kochen wollen, doch er mochte nicht. Dann habe ich ihm ein bisschen warmes Wasser gemacht, damit er sich waschen konnte, und ihn gebeten, etwas zu essen. Ein paar Löffel Grießbrei hat er genommen, dann ist er raus. Zum Abschied hat er gesagt, "warum gehst du nicht zurück ins Bett, Mutter? Leg dich wieder hin, ich fahre jetzt los".
Viele der Obdachlosen erhielten neue Wohnungen an der Peripherie von Algier. Doch was sie mit ihrem Viertel Bab el Oued verloren haben, lässt sich in den Trabantenstädten nicht ersetzen. Da die meisten vergeblich nach Arbeit suchen, herrschen Gleichmut und Depression. Weitaus prekärer ist die Lage für die Bewohner der Bidonvilles - Asyle der Verwüstung, die drei Monate nach der Katastrophe an manchen Stellen den Eindruck erwecken, als sei die Sintflut erst gestern über sie hereingebrochen. Hier leben oft Familien, die Mitte der neunziger Jahre - während der schlimmsten Phase des Terrors - ihre Dörfer verließen, um den relativen Schutz der Stadt zu suchen. In den Bidonvilles ist ihre Flucht unwiderruflich zu Ende.
Mohammad Ibrahimi - die Reichen
Mit uns ist es aus. Anfang des Jahres hieß es, wir sollten etwas bekommen, aber wo sind denn die Spendengelder geblieben, die Leute leben im Chaos, wo soll das hinführen? Die Schiffsladungen mit Hilfsgütern, was wird aus dem? Wir leben hier in der Feuchtigkeit, im Dreck und im Abfall, das ist die Wahrheit. Unser Staat ist für die Mülltonne. Wenn jetzt noch einmal so ein Regen kommt, dann gehen wir alle darauf - dann sterben wir alle. Die Reichen gehen nach Frankreich in ihren Händen die Devisen aus den internationalen Banken - aber wir? Nichts zu machen, das arme Volk soll sterben. Geht in die reichen Viertel und schaut euch die Schätzchen an. Denen wäre es doch am liebsten, es käme eine neue Flut und würde uns alle mitnehmen!
Der 10. November hat den vielen schleichenden Katastrophen, die Algerien in den vergangenen Jahren erschütterten, eine weitere hinzugefügt. Aber dieser Tag hat auch Helden hervorgebracht - es sind die Jungen von Bab el Oued, die unter Einsatz ihres Lebens Menschen aus dem Schlamm gegraben haben und deshalb bis heute im Viertel Kamikazes genannt werden. Die meisten Kamikazes sind arbeitslos, sie hatten und sie haben nichts zu verlieren - außer einem Weg in die Kriminalität oder den Terrorismus.
(Ein Teil der Informationen sowie die Interviews sind dem Film von Malika Chalabi entnommen)
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