Ukraine-Krieg: Früher oder später wird es Friedensverhandlungen geben
Moskau/Kiew Diktatfrieden oder Kriegsdiktat: Noch nie in der Geschichte gab es bei Verhandlungen von Kriegsparteien ein paritätisches Verhältnis. Was heißt das für Russlands Krieg gegen die Ukraine?
Zwei Ansagen beherrschen in Deutschland die politische Debatte über den Krieg im Osten. Sie lauten, die Ukraine dürfe nicht verlieren, sondern müsse (und werde) gewinnen. Da es augenscheinlich Zweifel gibt, ob und wie das gelingen soll, wird sicherheitshalber die Botschaft nachgeschoben, es dürfe keinen „Diktatfrieden“ geben, sprich: keine Verhandlungslösung, bei der Russland im Vorteil ist. Daran verwundert, dass Politiker allen Ernstes festlegen wollen, wie – wenn überhaupt – Diplomatie diesen Krieg zu beenden hat. Deren Ergebnisse von vornherein als „Diktatfrieden“ zu denunzieren, ist so realitätsfremd wie geschichtsvergessen.
Regime change inklusive
Seit jeher sind Friedensschlüsse auch als „Friedensdiktat
rrschen in Deutschland die politische Debatte über den Krieg im Osten. Sie lauten, die Ukraine dürfe nicht verlieren, sondern müsse (und werde) gewinnen. Da es augenscheinlich Zweifel gibt, ob und wie das gelingen soll, wird sicherheitshalber die Botschaft nachgeschoben, es dürfe keinen „Diktatfrieden“ geben, sprich: keine Verhandlungslösung, bei der Russland im Vorteil ist. Daran verwundert, dass Politiker allen Ernstes festlegen wollen, wie – wenn überhaupt – Diplomatie diesen Krieg zu beenden hat. Deren Ergebnisse von vornherein als „Diktatfrieden“ zu denunzieren, ist so realitätsfremd wie geschichtsvergessen.Regime change inklusive Seit jeher sind Friedensschlüsse auch als XX-replace-me-XXX8222;Friedensdiktate“ auslegbar, wie das die jüngste Vergangenheit oder weiter zurückliegendes Geschehen offenbart. Schließlich spiegeln solche Übereinkommen Kräfteverhältnisse zwischen Kriegsparteien. Wer muss aufgeben? Wer kann weiterkämpfen, wer glaubt zu siegen? Je nachdem, wie die Antworten ausfallen, lassen sich Feuerpausen bis hin zu einer dauerhaften Waffenruhe vereinbaren, Verhandlungen aufnehmen und Friedensverträge unterschreiben.Ein klassisches Beispiel liefert der am 11. November 1918 geschlossene Waffenstillstand zwischen den Mächten der Entente und Deutschland an der Westfront des Ersten Weltkrieges. Ende September 1918 hatte die Oberste Heeresleitung von der kaiserlichen Regierung ultimativ verlangt, sie müsse ein Waffenstillstandsgesuch stellen, andernfalls würden die feindlichen Armeen durchbrechen und auf deutsches Staatsgebiet vordringen. Die Kriegsgegner freilich wollten die Waffen erst schweigen lassen, wenn Bedingungen erfüllt waren, die auf einen „regime change“ hinausliefen. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson verlangte den Verzicht auf die Monarchie und eine Demokratisierung Deutschlands. Es dauerte Wochen, bis man sich arrangierte und zustande kam, was durchaus das Prädikat „Diktatfrieden“ verdiente – der Versailler Vertrag beseitigte dann letzte Zweifel.Dass sich Krieg führende Staaten darauf einlassen, über Frieden zu verhandeln, hängt in der Regel davon ab, ob sie auf dem Schlachtfeld mehr zu verlieren drohen, als sich am Verhandlungstisch gewinnen oder retten lässt – vorausgesetzt, die Parlamentäre werden rechtzeitig in Marsch gesetzt. Anders formuliert, es muss die Erkenntnis reifen, dass kriegerische Mittel schlechter geeignet sind, den eigenen Zielen gerecht zu werden als politische bzw. diplomatische. Für die USA war diese Einsicht ausschlaggebend, als sie Anfang der 1970er Jahre in Paris Friedensgespräche mit Nordvietnam aufnahmen. Die Lage in Südvietnam „diktierte“, was unausweichlich war, da die US-Armee den Indochina-Krieg nur unter noch größeren Opfern als den schon gebrachten gewinnen konnte. Und selbst das schien nicht gewiss, folglich waren es eine latente Verunsicherung und der schwindende Rückhalt im eigenen Land, die „diktierten“, mit dem Kriegsgegner auf Friedenssuche zu gehen.Bricht man das auf die Schlacht um die Ukraine herunter, heißt das: Früher oder später dürfte eine der Kriegsparteien ein „Friedensdiktat“ hinnehmen müssen. Es wird davon bestimmt sein, wie groß der strategische, materielle und symbolische Wert verlorener Regionen ist, wie verkraftbar die Zahl gefallener Soldaten und ziviler Opfer, der Verlust an Militärtechnik, die Zerstörung von Infrastruktur und ökonomischen Ressourcen. Von Bedeutung sind gleichsam militärische Reserven, der Ersatz von Equipment, die Aufrüstung durch Verbündete. Nicht zu vergessen – die Kampfmoral. Auf beiden Seiten deckt sich das Verhalten der jeweiligen Regierungen nur bedingt mit den Bedürfnissen der Bevölkerung. All diese Faktoren summieren sich zur Basis von Verhandlungen, doch ergibt sich daraus kein Zwang zur Verständigung, solange der politische Wille fehlt – bis die Kriegslage und das Kräfteverhältnis einen Sinneswandel „diktieren“. Dies nüchtern zu analysieren, beugt Wunschdenken vor. Momentan ist davon auszugehen, dass Russland aus dem eroberten Terrain in der Ostukraine nur unter massivem militärischen Druck weichen wird. Die Landbrücke zur Krim ist noch nicht sicher, aber schon begehbar, die Wasserversorgung der Halbinsel gewährleistet, eine Chance zur Beherrschung des gesamten Donbass in Sicht. Vom patriotischen Überbau her wird die Intention von einer Heimkehr der historischen Sphinx „Neurussland“ bedient. Davon ausgehend zeichnen sich zwei Szenarien ab: Die ukrainische Armee regeneriert sich in einem Maße, dass sie verlorene Gebiete zurückerobern oder einen Zermürbungskrieg gegen die Besatzungsmacht beginnen kann. Dazu müsste angesichts von etwa 20.000 Gefallenen die zu Beginn des Krieges gegebene Kampfstärke von 200.000 Mann (Russland: 800.000) wiederhergestellt werden, immerhin würde man aus der Rolle des Verteidigers in die eines Angreifers wechseln. Zudem bleibt abzuwarten, wie lange in der Ukraine der innere Burgfrieden angesichts militärischer Niederlagen hält. Offen ist weiterhin, ob strategische Nachteile ausgeglichen werden, sollte die von den USA und Deutschland gelieferte Rohr- und Raketenartillerie zum Einsatz kommen. Besonders der US-Raketenwerfer M142 Himars würde bei Reichweiten von bis zu 70 Kilometern das Feuer in die Tiefe des gegnerischen Raumes erlauben. Noch scheint die Führung um Präsident Selenskyj in dem Glauben zu handeln, auf dem Schlachtfeld mehr gewinnen zu können, als am Verhandlungstisch preisgeben zu müssen. Käme es irgendwann anders, wäre mit drei Verhandlungssträngen zu rechnen. Absolute Priorität hätte der künftige Status der Ukraine, wofür eine international gesicherte Neutralität in Betracht käme. Sie sollte aus ukrainischer Sicht bewaffnet und von befreundeten Staaten geschützt sein, während für Russland das Axiom gilt, kein Engagement der NATO. Bei einem zweiten Verhandlungsfeld dürfte es um die Garantien einer möglichen politischen Lösung gehen. Es bietet sich an, auf einen Mechanismus zurückzukommen, wie er 2015 nach dem Atomabkommen mit dem Iran verankert wurde.Muster, keine ModelleSeinerzeit sah ein auf die fünf UN-Vetomächte und Deutschland zurückgehender „Aktionsplan“ des UN-Sicherheitsrates (Resolution 2231) vor, dass bei Vertragsverstößen durch Teheran die ökonomischen Strafmaßnahmen umgehend wieder in Kraft treten. Es wäre also neben militärischen Garantien für eine ukrainische Neutralität eine ähnliche Regelung denkbar, indem ein Automatismus vereinbart wird, der Russland erneut mit Sanktionen belegt, sobald es die Neutralität der Ukraine gefährdet.Ein dritter Verhandlungskorb wäre dem Umgang mit von Russland besetzten Territorien vorbehalten, deren schnelle Rückkehr in den ukrainischen Staat vorerst kaum in Aussicht steht. Die Kunst wird darin bestehen, sich über einen Sonderstatus zu verständigen, der eine finale Integration in die Russische Föderation aufhält, aber zugleich den permanenten bewaffneten Konflikt um diese Regionen eindämmt. Umstrittene, von mehreren Staaten beanspruchte, das internationale Klima belastende Entitäten hat es in Europa immer wieder geben. Gefundene Lösungen waren auf Kompromisse angewiesen und so häufig über einen längeren Zeitraum hinweg konfliktresistent. Natürlich resultierten sie auch aus Kräfteverhältnissen, denen sich Diplomatie schwerlich entziehen kann, will sie zum Zug kommen. Man denke an Grönland, Westberlin von 1971 bis 1989, Andorra seit Jahrhunderten, Transnistrien als postsowjetischen oder den Kosovo als postpolaren Konfliktfall in Europa (s. Glossare).Diese Muster sind für die Ukraine keine Modelle, aber es wert, als Anregung geprüft und nicht etwa als „Diktate“ verworfen zu werden, weil sie einem Interesse am Krieg zuwiderlaufen.Placeholder infobox-1