So viel schien sicher, solange Wolodymyr Selenskyj Gipfel besucht, erst den der Arabischen Liga in Dschidda, dann das G7-Treffen in Hiroshima, würde sie kaum beginnen – seine viel beschworene Frühjahrs-, inzwischen eher Sommeroffensive. Der Oberkommandierende dürfte im Land sein wollen, wenn gegen die russischen Linien marschiert wird. Das Zeitfenster ist seit Wochen aufgestoßen, es wird sich kaum mehr schließen. Bis zum NATO-Gipfel im litauischen Vilnius am 11./12. Juli jedenfalls nicht. Bis dahin könnten Kampfhandlungen vorentscheiden, was die 31 NATO-Staaten entscheiden, um dem Krieg entweder noch mehr Leben einzuhauchen oder sich Konditionen zuzuwenden, die diesen Konflikt beenden lassen.
Unverkennbar ist: Die ukrainische Führung will erst lossch
rst losschlagen, wenn sie ihre Streitkräfte derart hochgerüstet weiß, dass relevante Geländegewinne durch ein militärisches Übergewicht gesichert sind. Nach dem offenkundigen Verlust von Bachmut gilt das allemal. Im Idealfall soll die russische Armee nicht nur empfindlich getroffen, sondern demütigend geschlagen werden. Dies wäre der Fall, wenn eine Rückeroberung der Krim in Reichweite liegt, aber einstweilen unterbleibt, weil die Option reizt, aus einer Position der Stärke heraus einen russischen Abzug auszuhandeln.Ein Diktatfrieden auch das, und als solcher fragil. Machbar ist dies nur, wenn sich die Alliierten Selenskyjs noch intensiver exponieren. Die von US-Präsident Joe Biden auf dem G7-Gipfel abgesegnete „Kampfjet-Koalition“ deutet darauf hin, dass weitere Vorsichten entfallen, die bisher um der eigenen Sicherheit willen Bestand hatten. Dies bedient nicht nur eine nach oben offene Eskalationsskala, in Gefahr gerät ein stillschweigend respektiertes Agreement, wonach Russland keine westlichen Waffentransporte Richtung Ukraine angreift, während die NATO – auch nicht in verdeckter Mission – keine Soldaten in die Ukraine schickt. Der deutsche Kanzler beschwichtigt, wenn er meint, es würden ja zunächst nur ukrainische Piloten ausgebildet – ein längerfristiges Projekt, bei dem etwa von den USA noch nicht endgültig entschieden sei, was daraus folgt. Ja, was wohl? Kampfflieger, denen nicht die Jets zur Verfügung stehen, die sie in die Luftschlacht zu steuern vermögen?Hemmschwelle entfälltUnerschrockener westlicher Tatendrang zugunsten der Kiewer Führung hat besonders eine Konsequenz: Wer sich so ins Zeug legt, braucht den Erfolg. Der darf nicht verlieren. Niederlagen wie ein Verpuffen der ukrainischen Offensive sind verboten. Der Verlust für das globale Ranking des Westens könnte einschneidender sein als beim Abzug aus Afghanistan 2021 nach 20 Jahren Besatzung und einem gleichfalls enormen Ressourceneinsatz. Das Tableau, Geopolitik unter Rückgriff auf die strategische Triade zu betreiben, indem interveniert, ein Regime Change ausgelöst und dieser durch Militärmacht abgesichert wird, hat sich seither erledigt. Was bleibt, ist die NATO-Osterweiterung als Referenzprojekt des Westens nach dem bipolaren Zeitalter. Mit der Ukraine erreicht es ein ultimatives Stadium, das vollendet sein wird, sollte die Ausschaltung Russlands als konkurrierende Macht in dem Maße gelingen, wie das heute mehr denn je beabsichtigt ist. Krieg bietet dafür günstigere Voraussetzungen als Frieden. Gegen Russland als Angreifer allemal. Von Anfang an ließ sich für die Ostausdehnung kein besserer Gegner finden, um sie zu rechtfertigen. Sie funktionierte nach dem Muster einer Selffulfilling Prophecy. Je mehr die NATO vorankam, desto gereizter reagierte Russland, desto mehr konnte sich der Westen bestätigt fühlen. Man manövrierte sich in die Alternativlosigkeit, davon überzeugt, nur so in einem zur Multipolarität verurteilten Zeitalter geopolitisch relevant zu bleiben.Wenn Selenskyj nun auf dem G7-Gipfel mit unvermindertem Beistand verproviantiert wurde, hinterlässt das den Eindruck einer politischen Großoffensive des Westens aus Skepsis gegenüber einer militärischen Großoffensive der ukrainischen Armee. Die wird mit großem Aufwand kriegsfähig gehalten, damit daraus eine permanente Abschreckung Russlands über den Krieg hinaus resultiert – vorläufig unterhalb der Schwelle einer formellen NATO-Aufnahme Kiews. Was Präsident Selenkyj nicht daran hindern dürfte, auf dem anstehenden NATO-Gipfel erneut die sofortige Mitgliedschaft zu verlangen. Das ist er sich wie seinen Verbündeten schuldig.Schließlich gehört es zur eingespielten Praxis westlicher Ukraine-Politik, irgendwann dem nachzugeben, wofür man selbst die Voraussetzungen geschaffen hat. Will heißen, wird der Kiewer Führung ein NATO-ähnlicher Beistand gewährt, ist es nur logisch, sich auch um eine NATO-Mitgliedschaft zu bewerben. Zum jetzigen Zeitpunkt wird die nur deshalb vermieden, weil das unweigerlich einen Kriegseintritt der Allianz zur Folge hätte. Sobald Russland aber so weit zermürbt ist, dass es keinen zweiten 24. Februar 2022 riskieren kann, sind Hemmschwellen überflüssig.Bliebe anzumerken, noch ist der Gegner nicht geschlagen und die Führung in Moskau davon überzeugt, lange durchhalten zu können.