Deutschland/Frankreich: Wattekauen in der Sorbonne

Meinung Was Kanzler Olaf Scholz Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zum 60. Jahrestag des Élysée-Vertrags über Europa gesagt hat, ist an Schönfärberei nicht zu überbieten
Ausgabe 04/2023
Der französische Präsident Emmanuel Macron wollte die EU reformieren
Der französische Präsident Emmanuel Macron wollte die EU reformieren

Foto: Ludovic Marin / AFP via Getty Images

So kann man sich rein- und Differenzen auswaschen. Kanzler Olaf Scholz lobt zur Feier von 60 Jahren Élysée-Vertrag in der Pariser Sorbonne die am gleichen Ort im September 2017 gehaltene EU-Reformrede von Präsident Emmanuel Macron. Die sei ein „entscheidender Schritt hin zu einem souveränen Europa“ gewesen, „so wie du, lieber Emmanuel, es vor fünf Jahren gefordert und skizziert hast, dafür bin ich dir sehr dankbar“. Als habe der ihm aus der Seele gesprochen, als er seinerzeit für eine EU-Inventur warb, um Innovationen anzustoßen, die in eine finale Integration münden konnten.

Macron hatte für eine „Neugründung“ Europas plädiert. Er wollte keine (damals) 18 Eurostaaten-Haushalte, sondern ein Eurozonen-Budget, ein gemeinsames Militär und einheitliche Steuern. Ihm schwebte eine EU-Asylbehörde aller Mitgliedstaaten vor, um die jeweilige Einwanderungspolitik zu synchronisieren. Er empfahl einen europäischen Staatsanwalt für den Antiterrorkampf. Frankreich und Deutschland sollten vorangehen und dies zum 55. Jahrestag des Élysée-Vertrages 2018 besiegeln. Nicht zum 60. verdruckst daran erinnern.

Olaf Scholz scheut Verantwortung in Europa

Kanzlerin Angela Merkel hatte den Reformer Macron locker an sich abtropfen lassen. Ihr Kabinett, dem Scholz seit 2018 als Vizekanzler und Finanzminister angehörte, hielt es kaum anders. Ein bisschen Pathos aus Paris in der Europa-Debatte, aber sicher doch. Was konnte es schaden? Aber deshalb gleich einen europäischen Finanzminister berufen? Als Joe Biden Donald Trump ablöste, lebte die Große Koalition in Berlin ihre transatlantische Retro-Mentalität aus. Es hatte sich was mit dem „souveränen Europa“.

Macron begegnet mit Scholz einem taktierenden Machiavelli, der die Geschichte – und sei es die jüngste, gut überlieferte einer EU-Reform – gefällig einfärbt und darauf achtet, dass von der Tünche nichts abfärbt. Was würde passieren, wollte sich der deutsche Kanzler wirklich Punkt für Punkt auf Macrons Agenda von 2017 einlassen? Deutschland geriete in die Verantwortung für eine zum inneren Umbau genötigte EU.

Die Beziehungen zwischen Berlin und Paris wären dann nicht mehr das Feigenblatt, um Ängste über eine deutsche Hegemonie zu zerstreuen, sondern eine Garantie, dass eine EU der 27 Staaten nicht zerbricht. Genau das ist der springende Punkt.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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