Die 20-20-Formel

Weltbevölkerung 1994 wollte ein Welttreffen in Kairo den Geburtenzuwachs global „stabilisieren“. 25 Jahre später ist das für die begonnene UN-Konferenz in Nairobi dringender denn je
In den Vorstädten von Nairobi lebt heute über zwei Millionen Menschen
In den Vorstädten von Nairobi lebt heute über zwei Millionen Menschen

Foto: Yasuyoshi Chiba / AFP - Getty Images

Mitte der 1990er Jahre gab es in dichter Folge aus heutiger Sicht fast schon legendäre UN-Weltkonferenzen gegen Armut und Arbeitslosigkeit, für mehr urbane Integration und mehr Verantwortung gegenüber den natürlichen Ressourcen dieser Erde. Im März 1995 tagte in Kopenhagen der erste UN-Weltgipfel für soziale Entwicklung. Er befand, es gäbe einen globalen Trend zu mehr Wohlfahrt, es sei nur eine Frage der Zeit und Verteilung, dass allen davon mehr zugute käme.

Immerhin hatte sich zwischen 1945 und 1995 das Weltsozialprodukt von 2.000 Milliarden auf 22.000 Milliarden Dollar erhöht. Auch kamen die Länder Afrikas – so der von Wachstumsraten geprägte Eindruck – wirtschaftlich schneller voran als einst die europäischen Pioniere des Industriezeitalters im 19. Jahrhundert. Andererseits musste in Kopenhagen eingeräumt werden, dass ein Fünftel der Bevölkerung in Asien, Afrika und Lateinamerika ständig oder häufig hungern müsse. Zudem wollte man sich nicht damit abfinden, dass von der Welterwerbsbevölkerung etwa ein Drittel, damals 820 Millionen Menschen, durch Arbeitslosigkeit oder Unterbeschäftigung nicht aus eigener Kraft für den Lebensunterhalt sorgen konnte.

Von 5,6 auf 7,7 Milliarden

Ein Jahr zuvor schon hatte die ebenfalls von den Vereinten Nationen getragene Weltbevölkerungskonferenz in Kairo gewarnt, ein exorbitantes Wachstum der auf unserem Planeten lebenden Menschen werde zur Quelle von Not und Unterentwicklung. Dabei zählte man im September 1994, als die gut 20.000 Delegierten, darunter US-Präsident Bill Clinton, in der ägyptischen Hauptstadt tagten, weltweit 5,63 Milliarden Menschen.

Ein viertel Jahrhundert später tritt in Nairobi eine weitere UN-Weltbevölkerungskonferenz in dem Bewusstsein zusammen, dass es nunmehr 7,7 Milliarden Menschen sind und 2050 wohl noch einmal zwei Milliarden mehr sein werden, die den Planeten bewohnen und Anspruch auf ein menschenwürdiges Leben haben.

Bisher bleibt ihnen das besonders in Afrika verwehrt. Auf diesen Erdteil konzentrieren sich deshalb die Bemühungen, das Wachstum zu steuern, weil damit zu rechnen ist, dass sich dessen Bevölkerungszahl bis 2050 verdoppelt – von jetzt 1,3 auf dann wohl 2,6 Milliarden Menschen. Eine solche Prognose wird nachvollziehbar, wenn man sich nur vergegenwärtigt, dass der zentralafrikanische Flächenstaat Demokratische Republik Kongo 1970 16,1 Millionen Einwohner zählte, heute hingegen 85,3 Millionen Staatsbürger vereint.

Umso mehr – das ist Anfang November 2019 zur Konferenzeröffnung in Nairobi keine Frage – hat das vor 25 Jahren beim Welttreffen in Kairo beschlossene „Aktionsprogramm“ nichts an Dringlichkeit eingebüßt. Seine Quintessenz ließ sich auf die Maxime bringen, Familienplanung ist zwar nicht als allgemeines Menschenrecht zu betrachten, aber es wird als Anrecht für jedermann festgeschrieben. Das heißt, es muss überall ein Zugang zu Verhütungsmitteln gesichert sein, deren Gebrauch nicht durch dogmatische Vorgaben, etwa der Katholischen Kirche, eingeschränkt oder ausgeschlossenen wird. Der Vatikan hatte sich seinerzeit noch vor der Kairoer Konferenz dazu durchgerungen, sein Verdikt vom „Verhütungsimperialismus des Nordens“ gegenüber Lateinamerika und Afrika aufzugeben. Seine Gesandten hielten nur noch am Verbot der Abtreibung fest.

Inwieweit wird heute dem Anspruch auf Verhütung entsprochen? Vor 25 Jahren wurde beklagt, dass 120 Millionen Frauen allein in der damals noch so bezeichneten „III. Welt“ keinen Zugang zu Verhütungsmitteln hätten. Aus Nairobi wird gerade kolportiert, dass gut 200 Millionen Frauen allein aus Afrika in Gegenden leben, wo es weder Kondome noch Pillen noch Spiralen noch andere Mittel der Verhütung gibt.

Davon abgesehen war man sich schon in Kairo darüber im Klaren: Familienplanung lässt sich nicht auf Geburtenkontrolle beschränken. Gebraucht werden bessere Bildungschancen und Arbeitsmöglichkeiten für Frauen. Die sollten sie von der Vorstellung erlösen, viele Kinder seien die beste Sozialversicherung und sicherste Altersvorsorge. Gebraucht wird ebenso der Zugang zu Gesundheitsdiensten, die diesen Namen verdienen. Es hieß wörtlich im Kairoer „Aktionsprogramm“: „Ohne eine konzertierte Aktion zugunsten der armen und kinderreichen Bevölkerung lässt sich das Bevölkerungswachstum nicht stabilisieren“.

Erinnern tut not

Wie sollte das erreicht, vor allem finanziert werden? Im Gespräch war die „20-20-Formel“, wonach die Entwicklungsländer 20 Prozent ihrer öffentlichen Ausgaben für Berufsbildung, für Schulen überhaupt und für Selbsthilfeprojekte einsetzen. Die Industriestaaten waren gehalten, einen gleichen Anteil ihrer Entwicklungshilfe ebenfalls für diese Zwecke zur Verfügung zu stellen. Leider blieb es beim moralischen Appell, so zu verfahren. In das „Aktionsprogramm“ aufgenommen wurde die „20-20-Formel“ entgegen der ursprünglichen Absicht nicht.

Für ein durch soziale Verantwortung und Fürsorge beeinflusstes Bevölkerungswachstum konnte das nur von Nachteil sein, obwohl bereits 1994 in Kairo ohne Umschweife konstatiert wurde: Eine weiter steigende Besiedlung von Erdregionen bedingt steigenden Konsum, bedingt eine Störung des sozialen und ökologischen Gleichgewichts – bedingt Klimawandel. Das stand sinngemäß im „Aktionsprogramm“, denn dazu hatte sich die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio unmissverständlich geäußert. Mit diesem „Erdgipfel“, wie er damals genannt wurde, hatte die Reihe jener UN-Konferenzen begonnen.

Auf die zu berufen sich bis heute anbietet? Nein, es scheint zwingend geboten.

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