Der Zweikampf zwischen China und den USA (wie dem Westen überhaupt) verheißt vor allem eines – der Wettbewerb der Systeme kehrt zurück. Zwar kam der nach 1990 nie vollends zum Erliegen, wie allein am Umgang mit Russland abzulesen war, fand aber kaum zu der Polarität und Dynamik, die den Augenblick beherrscht. Dabei stehen sich nicht wie bis 1989/90 die Planwirtschaft eines rudimentären Sozialismus und die Marktwirtschaft eines regulierten Kapitalismus gegenüber. China hat einen erfolgreichen Staatskapitalismus aufzubieten und wirbt damit zugleich für einen souveränen und handlungsmächtigen Staat, dem es seinen ökonomischen Aufstieg maßgeblich verdankt. Dessen ungeachtet läuft die Konfrontation der Systeme nicht allein auf die Rivalität staatlicher Kapitalismus versus freie Marktwirtschaft, autoritäres Regime versus liberale Demokratie hinaus. Nicht einmal vorrangig. Die Kernfrage lautet, wer kann sich in einer durchglobalisierten, multipolaren Welt am besten behaupten, kommt es in ökonomischer Hinsicht und kritischer Lage zum Schwur. Auf die Gegenwart bezogen: Wer ist wie disponiert, wird die Corona-Krise zur Systemfrage – sind Einbußen bei Wohlstand, Produktion wie Wettbewerbsfähigkeit zu kompensieren?
Verweigerter Kotau
Die schwindende Glaubwürdigkeit der westlichen Demokratie, die sich als unfähig erweist, autokratischen Herrschaftspraktiken in den USA mit Gegenmacht zu begegnen, setzt dem Versuch Grenzen, beim Konflikt mit China politisch aufzutrumpfen, indem die Wertekarte gezogen wird. Es kommt hinzu, dass von konsistenter westlicher China-Politik keine Rede sein kann. Derzeit haben die EU-Staaten wenig Interesse an einem Handelskrieg, die USA schon. Berlin lässt in der Hongkong-Frage Vorsicht walten, London interveniert massiv. Die EU-Zentrale will mit den USA ein gemeinsames Gesprächsformat zur China-Frage etablieren, Frankreich nicht.

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Auch in der Vergangenheit handelten systemverwandte europäische Staaten gegenüber China selten im Einklang. Als Ende des 18. Jahrhunderts Lord Macartney als britischer Emissär ins Reich der Mitte entsandt wurde, um diplomatischen Kontakt aufzunehmen, betrieb er das, ohne seinen Gastgebern die erwartete demutsvolle Reverenz zu erweisen. Er verweigerte den Kotau vor Kaiser Qianlong, der daraufhin mitteilte, er könne dem Austausch von Botschaftern nichts abgewinnen. Bald darauf wurde eine niederländische Delegation aus dem gleichen Anlass in Peking vorstellig, hielt sich an das Reglement, traf auf das Wohlwollen des Herrschers und hatte Erfolg. Das britische Königshaus warf den Niederländern vor, sich wie Krämer verhalten zu haben. Tatsächlich wollten die nicht ignorieren, dass ein chinesischer Kaiser als Inkarnation einer hoch entwickelten Zivilisation respektiert sein mochte.

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Diesem Selbstverständnis konnte das 20. Jahrhundert nichts anhaben, woran sich mit der 1949 gegründeten Volksrepublik wenig änderte. Der Sinozentrismus, Angelpunkt des chinesischen Weltbildes seit Jahrtausenden, hatte Bestand. Schwankungen unterworfen war allein der Grad an Emanzipation von einem Wir-Sie-Schema, das dem Umgang mit einem nahen und fernen Ausland zugrunde lag. Eine autochthone Kulturentwicklung, dazu die Kontinuität der eigenen Geschichte, die nur durch Abschottung möglich war, bedienten die Auffassung, nicht Teil einer Welt zu sein. Vielmehr galt es, die eigene gegen die andere Welt zu bewahren und nie in den Strudel eines „überchinesischen“ Weltgeschehens gerissen zu werden.
Diese Axiome beachtend, lassen sich seit 1949 drei Perioden für die internationalen Beziehungen Chinas erkennen. Es kommt zur vorsichtigen Öffnung zwischen 1949 und 1966, es gibt die Phase der Abkehr und Selbstisolation bis 1979, schließlich das Reformzeitalter seither. Das Übergreifende besteht im Willen, stets allein handlungsfähig zu sein, das Trennende in der Antwort auf die Frage, wie dem gerecht zu werden ist. Dafür ziehen Denkschulen in Kämpfe, in denen Klassenbrüder zu Todfeinden werden können. Dies im Rückblick zu analysieren, kann die Erkenntnis fördern, dass Chinas Umgang mit sich selbst nur ein eigenmächtiger, nie ein von außen bestimmter sein kann.

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Als 1955 eine Konferenz im indonesischen Bandung Gastgeber Ahmed Sukarno mit Indiens Premier Nehru und dem jugoslawischen Präsidenten Tito vereint, ist auch der chinesische Ministerpräsident Zhou En-lai dabei. Zusammen mit Regierungschefs aus 25 weiteren Ländern Afrikas und Asiens einigt man sich auf Prinzipien für eine Bewegung der Nichtpaktgebundenen. Sie will dafür sorgen, dass Staaten und Systeme in friedlicher Koexistenz miteinander verkehren, und den Ost-West-Konflikt als dominante internationale Struktur relativieren. Was China offenbar schätzt, ist die von den Blockfreien bevorzugte multi- statt bipolare Welt. Sich damit zu identifizieren, hat den Vorteil, sowjetisch intendierten Bündnissen zu entgehen. Souverän entscheiden zu können, gilt als Conditio sine qua non. Eine paktfreie, sich als Bewegung verstehende Staatenassoziation kann einem sich vorsichtig öffnenden China helfen, nach einem Platz im weltpolitischen Gefüge zu suchen, ohne sich verleugnen zu müssen.
Jener Abschnitt findet ein jähes Ende, als mit der durch Mao Zedong 1966 ausgerufenen „Kulturrevolution“ die auswärtigen Beziehungen in ein teilweise ultramaoistisches Fahrwasser geraten und dem Drang nach Abschottung zu genügen haben. Es beginnt eine ideologisch gefärbte, in Wirklichkeit aber machtpolitisch geprägte Entfremdung zwischen Moskau und Peking. Die Sowjetunion wird zum „sozialimperialistischen Regime“ erklärt, das wegen revisionistischer Entartung jeden Anspruch verwirkt habe, Führungsmacht der kommunistischen Welt zu sein. Temporär irreparable Antagonismen zwischen beiden Staaten provozieren an der etwa 4.300 Kilometer langen gemeinsamen Grenze militärische Zusammenstöße, so geschehen im März 1969 am Fluss Ussuri, als sogar der Einsatz taktischer Kernwaffen droht.
Während die UdSSR zum „Hauptfeind des chinesischen Volkes“ erklärt wird, ist von den USA als „dem Papiertiger“ die Rede, den man nicht zu fürchten brauche. Konterkariert wird dieses Urteil durch Chinas Beistand für das sozialistische Nordvietnam, das Ende der 1960er Jahre der US-Militärintervention in Südvietnam Paroli bietet. Was den Kriegsschauplatz an chinesischen Waffen erreicht, gilt keinem „Papiertiger“, sondern einer Supermacht. Überdies soll tatkräftige Solidarität für den Norden Vietnams nicht der Sowjetunion allein überlassen bleiben. Das verbietet sich allein wegen der nationalkommunistischen Gesinnung hier wie dort. Mao Zedong und Ho Chi Minh haben ihr Sozialismus-Projekt stets der Souveränität und Entscheidungsfreiheit ihrer Nationen untergeordnet, nicht als Folge der Revolution, sondern deren Ziel verstanden. Auf die Außenpolitik übertragen, führte das zu einem sinozentristisch intendierten Souveränitätsverständnis, deren Wurzeln nur verstehen kann, wer sich die Programmatik der Kommunistischen Partei vergegenwärtigt.
Die Feindschaft zur Sowjetunion begünstigt nach 1970 diplomatische Vorstöße der USA, mit China Beziehungen zulasten der UdSSR anzubahnen. US-Außenminister Kissinger trifft im Juli 1971 in Peking Premier Zhou Enlai, ein Jahr später fliegt Präsident Richard Nixon nach China, um am Ende eine „Deklaration von Shanghai“ zu unterzeichnen, die statt gegenseitiger Ächtung gegenseitige Achtung beschwört. Dass sich beide Mächte instrumentalisieren, ist keines Dementis wert. Die chinesische Lesart bringt das Parteiorgan Renmin Ribao auf den Punkt, man benutze die USA als den „fernen Barbaren“, um die Sowjetunion, den „nahen Barbaren“, zu zügeln.
Einbinden? Eindämmen?
Je energischer freilich ab 1979 mit den Beschlüssen des III. Plenums nach dem XI. KP-Parteitag Deng Xiaoping seine ökonomischen Reformen vorantreiben kann, umso zwangsläufiger wird die Außenpolitik davon berührt. Die nunmehr propagierte Äquidistanz zu den USA wie der UdSSR zehrt von der Idee einer multipolaren Welt aus den 1950er Jahren und findet mit der Formel vom „strategischen Dreieck“ Washington-Peking-Moskau zu zeitgemäßer Transformation. Wie sich das Verhältnis zur Sowjetunion entspannt, zeigt sich daran, dass Grenzfragen plötzlich durch Gebietstausch lösbar sind und das Handelsvolumen 1990 wieder die Fünf-Milliarden-Dollar-Grenze erreicht.

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Als unter Michail Gorbatschow der globale Machtverschleiß der UdSSR erkennbar voranschreitet, wird das in Peking mit Sorge verfolgt. Dafür ausschlaggebend ist weniger Sympathie für den wiederentdeckten Partner aus frühen Tagen. Entscheidend ist der Wunsch, bei Machtproben mit den USA entlastet zu werden, wenn mit der Sowjetunion ein strategisches Gegengewicht erhalten bleibt. Als die einstige Supermacht Ende 1991 dann doch abdankt, wird dieses Kalkül auf die Russische Föderation übertragen und verhilft fortan zur Koexistenz des Pragmatismus zwischen Moskau und Peking. Ein außenpolitischer Vorteil, seit sich die USA für den asiatisch-pazifischen Raum als geografisches Zentrum des Systemwettbewerbs entschieden haben. Das zeichnet sich bereits Ende der 1990er Jahre ab, doch wird in Washington seinerzeit noch die Alternative diskutiert: Die neue Großmacht einbinden oder eindämmen? Donald Trump will Letzteres, worauf China antwortet, indem es sein Souveränitätsverdikt kompromisslos verteidigt. Dies geschieht zum Schutz der Modernisierung der Volkswirtschaft wie der 2013 gestarteten Investitionsoffensive „One Belt, One Road“. Dies gilt für die Hongkong- oder Taiwan-Frage genauso wie für die Militärpräsenz im Südpazifischen Raum. China dürfte es nicht an politischer Konsequenz fehlen, jetzt mehr denn je Verlusten an Souveränität zu widerstehen. Das ergibt sich nicht zuletzt aus dem genetischen Code einer Nation, der die Jahrtausende ihrer Geschichte näher sind als das heutige Gegner wahrhaben wollen.
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