Wann je sind die USA und Deutschland so weit auseinandergedriftet wie in den Trump-Jahren? Seit der Ost-West-Konflikt nicht mehr zusammenschweißt, was sich „Westen“ nennt, entstand keine solche Entfremdung. Die gewohnte Nähe schwand dahin, es gab nur noch den Atlantik, keine verlockenden Gestade mehr weit hinten am Horizont. Deutschland wurde als Schmarotzer geschmäht, der sich mit wohlfeiler Warenflut an der US-Ökonomie verging. In Berlin residierte ein US-Botschafter, der kein Diplomat, sondern Provokateur sein wollte. Kanzlerin Merkel hatte sich schon von George W. Bush nur ungern den Nacken massieren lassen, aber erst mit Donald Trump unterhielt sie ein gestörtes Verhältnis.
Was auch immer an brüskierenden Volten aus Washington kam, es wurde mit der anklagenden Demut des zu Unrecht Gescholtenen ertragen, dem selbstbewusste Antworten auf der Zunge lagen, ohne riskiert zu werden. Die Haut klebte am Hemd der Bündnisräson. Hätte Wagemut obsiegt, müsste jetzt nicht unablässig über die „Schicksalswahl“ in den USA meditiert werden, als sei es möglich, mit Donald Trump auch die US- und Weltzustände abzuwählen, die ihn verantworten.
Nur noch für sich
Statt verlorene transatlantische Gewissheiten zu betrauern, hätte es gelohnt, den dank Trump entstandenen Freiraum auszuschreiten. Allein im Dreieck USA-Deutschland-Russland boten sich Möglichkeiten, doch nicht einmal das gemeinsame Interesse in Berlin und Moskau am Erhalt des Atomabkommens mit dem Iran war dazu angetan, die konzertierte Aktion zu suchen und Trumps ökonomische Kriegserklärung an Teheran zu entschärfen. Stattdessen verfiel das deutsch-russische Verhältnis stupider Stagnation, weil eine ideologisch aufgeladene Außenpolitik ihr Heil in einem Gut-Böse-Rigorismus suchte, um sich über latenten Bedeutungsverlust hinwegzutrösten. Die Abkehr der USA hätte noch aus einem anderen Grund eine dezidierte Reaktion verdient. Von der Trump-Regierung wurde eine Welt antizipiert, die den Nationalstaat rehabilitiert. Nicht allein übermäßiger Globalisierungsdruck hat ein Bedürfnis nach Kleinräumigkeit befördert, ebenso das Schwinden tradierter Hierarchien im Verkehr der Staaten untereinander.
Die Lage der EU belegt das exemplarisch – in dem Maße, wie sie den Aufstieg zum supranationalen Souverän verpasst hat, stimuliert das bei den Mitgliedern den Willen zu mehr nationaler Souveränität. Warum sonst scheitert eine synchronisierte Flüchtlingspolitik, wird die Rivalität im EU-Führungszirkel zwischen nationalen Regierungen in Paris und Berlin ausgetragen, wollen EU-Staaten heraus aus dem Geschirr rechtsstaatlicher Normierung? Die Vereinigten Staaten können die fehlende Kohärenz im vereinten Europa nur als Ansporn empfinden, im Konflikt um Handelsdefizite, Einfuhrzölle, Umwelt- und Sozialstandards nicht zurückzuweichen. Sie haben unter Donald Trump gezeigt, wo sie stehen – in keinem Lager, nur noch für sich selbst. Das würde sich unter Joe Biden, sollte der ein unanfechtbarer Wahlsieger sein, kaum ändern, auch wenn er demnächst wieder von der transatlantischen Brücke winkt und deren Widerlager mit versöhnlicher Semantik schmiert. Er würde Nord Stream 2 so wenig tolerieren wie Trump, er dürfte den Umbau der NATO von einer Allianz der weltweiten Aktion zur Anstalt mit begrenzter Haftung fortsetzen und in der Iran-Frage keine Kehrtwende vollziehen. US-Präsidenten fragen mittlerweile nicht mehr nach dem Ranking ihres Landes in internationalen Konflikten. Es geht um den Nutzen, den die USA daraus ziehen, wenn sie sich auf einen Konflikt einlassen oder ihn aussparen. Die von Deutschland so geschätzte Moral- und Menschenrechtsapologetik verortet dieser Pragmatismus eher als Störfaktor.
Eines ist unverkennbar, längst hat sich eine globale Wettbewerbsgesellschaft etabliert, bei der sich vorwiegend autokratische mit vorwiegend liberalen Staatsordnungen und Wertesystemen messen. Wer sich durchsetzt, hängt nicht an der Überzeugungskraft von Ideologien. Ausschlaggebend ist das Vermögen, existenzielle Herausforderungen so zu bewältigen, dass die eigene Gesellschaft nicht über Gebühr in Mitleidenschaft gezogen wird. Was die Konkurrenz der Systeme anfeuert, ist eine Agenda akuter Zwänge. Wer vermag es am besten, die Folgen der Corona-Pandemie zu verkraften, China oder die EU? Wer kann den Raubbau an der Natur und damit an Überlebensressourcen der Menschheit eindämmen, ohne dass Prosperität und Wohlstandsversprechen systemrelevanten Schaden nehmen? Darüber ist nicht nur zu entscheiden, das wird ausgefochten. Die Welt befindet sich im Übergang zur globalen Schicksalsgemeinschaft, doch ist sie seit dem 3. November 2020 durch die demokratische Selbstdemontage der USA noch weniger fähig, daraus die nötigen Schlussfolgerungen zu ziehen.
Um sich selbst zu schützen, verzichtet das spätkapitalistische System inzwischen weitgehend auf Zivilisationsbrüche, wie sie mit Kriegen einhergehen. An deren Stelle sind andere Katastrophen für die zivilisatorische Substanz des Planeten getreten, die von ihren Auswirkungen her denen von bewaffneten Konflikten kaum nachstehen. Die Corona-Pandemie offenbart symptomatisch, wie der Mensch die Kontrolle über den Globus zu verlieren droht. Diese Gefahr vereint die USA, Europa und Deutschland über den transatlantischen Graben hinweg, ganz egal, wer in Washington regiert.
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