Nicht nur Mister Scharping, auch Kanzler Schröder und Minister Fischer waren ein großartiges Beispiel für politische Führer, die nicht der öffentlichen Meinung hinterher rennen, sondern diese zu formen verstehen ...", erinnert NATO-Sprecher Jamie Shea im Interview mit Bewunderung an Politiker, die während des Krieges gegen Jugoslawien "wussten, welche Nachricht jeweils für die öffentliche Meinung wichtig war". - Tatsächlich, die Wortführer der rot-grünen Regierung im Frühjahr 1999 gaben ein "großartiges Beispiel". Die WDR-Reportage von Jo Angerer und Mathias Werth "Es begann mit einer Lüge - Deutschlands Weg in den Kosovo-Krieg" (ausgestrahlt am 8. Februar), lässt daran keinen Zweifel. Sie dokumentiert mit welcher Intensität und Kaltblütigkeit Fakten manipuliert und verfälscht, "Massaker" oder "Hufeisenpläne" erfunden werden können. Sie offenbart, wie gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Krieg herbeigelogen werden kann (Ist es so abwegig, da an den "Fall Gleiwitz", den September 1939, zu denken?) und dass eine Mediendemokratie dafür beachtliche Möglichkeiten bietet anstatt Korrektiv zu sein. Aber dieser Kontext bleibt bei Angerer und Werth eher unterbelichtet. Ihre Beweisaufnahme gilt allein den mit politischer Verantwortung ausgestatteten Paladinen des Waffengangs gegen Jugoslawien. Rekonstruiert wird ein deutscher Weg in den Krieg, bei dem nicht allein Bündnispflicht der Kompass war, sondern vor allem der Wille, ihn - um den Preis der Wahrheit - bis an sein Ende gehen zu können. Weshalb sonst wurde die Öffentlichkeit derart belogen, wie es dieser Film Punkt für Punkt mit unerbittlicher Akribie nachweist?
Es verdient unbedingt hervorgehoben zu werden, dass sich die Dokumentaristen dabei nicht allein auf die Faszination des Faktischen verlassen haben, sondern auf einer zweiten Ebene zeigen, woran uns heute oft nur noch die Friedensforscher - manchmal schon mit höflich-resignativer Abgeklärtheit - erinnern: Dieser Krieg war als Pilotprojekt gedacht, um durch den rigiden Vollzug einer neuen NATO-Doktrin der Welt des 21. Jahrhunderts zu bedeuten, welche Hausordnung ihr droht. Dazu waren Schröder Co. zu einem Verfassungsbruch bereit, für den es in der deutschen Nachkriegsgeschichte kein Beispiel gibt. Deshalb haben sie ihrer Politik zu einem Credo verholfen, das mehr ein Stigma ist und völkerrechtliche oder zivilisatorische Normen wie den Kurs von Aktien taxiert, die gegebenenfalls verkauft oder abgestoßen gehören. Angerer und Werth lassen denn auch den Blick der Kamera über die Plätze im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen wandern und erinnern an Clintons Devise, "mit den Vereinten Nationen, wenn möglich - ohne sie, wenn nötig", was wohl auch heißen sollte, mit dem Völkerrecht, wenn möglich, und ohne, wenn nötig.
Aber genau hier drängt sich bei allem Respekt vor der investigativen Leistung des Films die eigentlich bohrende Frage auf: Was nutzt es, die Kriegsverstrickung der Scharping und Fischer so überzeugend nachzuweisen? Wird damit die Hermetik des politischen Spiel aufgebrochen? Gibt es irgendwelche Konsequenzen für die Täter - auch nur einen Hauch von Sühne? Der einstige deutsche OSZE-Beobachter, General Heinz Loquai, bringt im Interview Fischers Auschwitz-Vergleich aus der Zeit des Krieges zu Recht in die Nähe einer Verbreitung der Auschwitz-Lüge, was in Deutschland als Straftatbestand gilt. Aber dieser Minister - ein glänzendes Beispiel für die politische Beliebigkeit nicht nur der Grünen, sondern auch dieser Republik - hat seinen Bedarf an Reue für einstige Prügeleien mit der Polizei verausgabt. Und die Medien nehmen das sehr viel ernster als die Frage, ob er sich vielleicht auch für die mehr als 1.000 Serben entschuldigen sollte, die den NATO-Luftkrieg nicht überlebt haben. Warum? Weil das nicht entschuldbar ist? Oder weil die Reihen der Aufrechten und Anständigen sauber, über jeden Zweifel erhaben sein sollen, wenn es wieder einmal darauf ankommt, in die "Fratze der eigenen Geschichte" (Scharping) zu schauen und Auschwitz zu missbrauchen? Gibt es einen beredteren Vorgang für den Zustand derer, die sich zur politischen (und journalistischen) Klasse zählen?
Um die oben gestellte Frage zu präzisieren: Wirkt unter diesen Umständen die investigative Geste des Films nicht wie ein fast hilfloser Versuch später Schadensbegrenzung? Als die Bomben auf Split und Belgrad fielen, wollte sich auch die ARD der Hermetik des Spiels nicht etwa entziehen, sondern übernahm ihren Part. Abend für Abend wurde das gleiche Ritual der Bilder zelebriert, wurde Wirklichkeit zitiert, um sich gegen Wirklichkeit abschotten zu können. Obwohl es schon immer Zweifel am Massaker von Racak, am Fußball-KZ von Prishtina, am "Hufeisen-Plan" Milos?evic´s gab, die Motorik der Kriegsrechtfertigung kam nicht ins Stottern. Weil der Glaube an die "humanitäre Mission" die Tatsachen erschlug? Weil die Diktatur einer Medien-Demokratie keine Spielräume erlaubt? Weil es eben diese Hermetik des Spiels zu wahren gilt? Man erinnere sich der Auftritte des Moderators Sigmund Gottlieb vom Bayrischen Rundfunk, der bei einer Live-Schalte wie im Affekt reagierte und den jeglicher Milos?evic´-Sympathien unverdächtigen serbischen Journalisten Ivan Ivanji öffentlich maßregelte, weil der es gewagt hatte, über die Opfer der NATO zu reden und den Zynismus des Wortes "Kollateralschaden" zu geißeln.
Vor diesem Hintergrund wirkt der Film von Angerer und Werth wie ein glänzendes, weil auf Beweise gestütztes Plädoyer vor Gericht, das ein mit Indizien, Vermutungen und Lügen gezimmertes Argumentationsgebäude der Gegenseite wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lässt, aber die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, weshalb kam der ganze Prozess überhaupt zustande? "Dieser Film zeigt, weshalb Bomben auf Belgrad fielen ...", heißt es im Prolog. Ja, er zeigt es, indem er viele Gründe nennt, aber eben doch der alles entscheidenden Frage ausweicht, weshalb es sie in dieser ultimativen Weise geben konnte.
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