Die Kavallerie von Kairo

Ägypten Wenn Präsident Mubarak geht, soll nicht das System Mubarak an seinen Fußsohlen kleben – darin besteht der Sinn eines geordneten Rückzugs, um den es gerade geht

Sollte am Tag nach dem „Marsch der Millionen“ zu Wochenbeginn ein mythisch aufgeladenes Bild im Zentrum Kairos beschworen werden? Es schien fast so. Als Mubarak-Gefolgschaft auf Pferden und Kamelen heran galoppierte und Menschen nieder ritt, erinnerte das an den Märtyrertod des Propheten-Enkels Hussein vor mehr als 1.300 Jahren. Der war in der Schlacht von Kerbela in einen Hinterhalt gelockt, getötet und sein Körper danach von Pferden zerstampft worden. Die rasende Kavallerie von Kairo schien mit ihren Todfeinden Ähnliches vorzuhaben. Dazu berufen, ein Gottesurteil zu vollstrecken, war sie nicht. Aber vielleicht fühlte sie, wie sich über ihr ein Gottesgericht zusammenbraute. Diese Kavallerie stürmte vor und ritt um ihre Existenz. Die Günstlinge, Kostgänger und Türsteher des Regimes wissen nur zu gut, was ihnen blüht, wenn in Ägypten der Aufstand zur Revolution wird und das große Aufräumen und Abrechnen beginnt. Die ägyptische Oberschicht, Minister und Generalität, sie alle haben sicher manches zu verlieren – ihre Handlanger alles. Sie dürfen am wenigstens mit Gnade rechnen, wenn nach den Schuldigen für die Verbrechen eines Polizeistaates gesucht wird.

Als Mubaraks letztes Aufgebot drängten sich diese Prätorianer freilich nicht ins Gefecht. Dieses Siegel verdienen andere aus seiner Entourage, die dem Präsidenten jetzt einen Rückzug ermöglichen wollen, der weder nach Sturz noch Flucht aussehen soll. Wenn die Galionsfigur geht, soll das System nicht an ihren Fußsohlen kleben. Zu retten, was zu retten ist, darum bemüht sich besonders der neue Vizepräsident Omar Suleiman, der als Geheimdienstchef seit einem Jahrzehnt zu den engen Vertrauten des Präsidenten zählt. Er avancierte zum persönlichen Freund, als er 1996 ein Attentat auf Mubarak beim Besuch in Addis Abeba verhinderte. Omar Suleiman galt als designierter Nachfolger, lange bevor der Aufstand losbrach. Erneuerer, Reformer oder Hoffnungsträger kann er deshalb schwerlich sein.

Mubaraks letztes Aufgebot, das sind nicht minder seine bisherigen Verbündeten im Westen, die ihn inzwischen abgeschrieben haben, nicht weil ihnen der Potentat suspekt, sondern der Versager nicht mehr nützlich ist – er hat den Sturm nicht gehört, als der sich zusammen braute. Trotzdem verzichtet die EU darauf, klar und unmissverständlich den Rücktritt zu fordern, weil noch nicht ausgehandelt ist, was nach dem Abgang des Potentaten kommt. Einen Zusammenbruch soll Ägypten nicht erleben, Chaos und Anarchie ebenso wenig. Erwünscht ist die baldige Rückkehr zu innerem Gleichgewicht und äußerer Stabilität, damit nicht eine westliche Nahost-Doktrin zur Disposition steht, bei der Ägypten von jeder Konfrontation mit Israel suspendiert ist.

Noch liegt in Ägypten die Macht nicht auf der Straße. Die hat zwar viel Gegenmacht entwickelt, bleibt aber ein gegenmächtiges politisches Zentrum des Umsturzes schuldig. Es fehlt eine Führungsfigur, wie das 1978/79 in Teheran Ayatollah Khomeini für einen aus den Fugen geratenen Iran war. Auch fehlt es an einem Programm für einen gesellschaftlichen Umbruch Ägyptens, der Millionen Menschen nicht länger ein Leben aus der Perspektive einer Mülltonne führen lässt. Der Westen gefällt sich darin, Wut und Hoffnung des Protests in einem Cocktail aus Freiheitsparolen zu ertränken, um den sich besonders der deutsche Außenminister verdient macht. Statt einer Agenda der Phrasen sollte sich Westerwelle besser zur Algebra der Gerechtigkeit durchringen und einfach sagen: Wie viel Tote müssen es noch sein, bevor es anders, besser, gerechter zugeht in Ägypten?

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