Schon im Wahlkampf schien die Außen- und Sicherheitspolitik ein irrlichterndes Phantom, dem keiner begegnen mochte, wenn er nicht unbedingt musste. Wird mit der nächsten Bundesregierung diese Absetzbewegung zur Flucht? Im Sondierungspapier von SPD, Grünen und FDP fristet die Welt da draußen weiter ein Schattendasein. Erst im letzten von zehn Punkten wird „Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt“ referiert. Es wäre verfrüht, dieses Ranking als Agenda zu beklagen. Doch überwiegt der Eindruck, dass die potenziellen Alliierten von ihrem Modernisierungsfuror derart ergriffen sind, dass sie übersehen, wie sehr auch internationale Beziehungen das Zeitgemäße brauchen.
Seit dem Afghanistan-Exit sollte ein Bewusstsein dafür vorhanden sein, dass als unveräußerlich geltende Gewissheiten mittlerweile im Ausverkauf zu haben sind. Um einige herauszugreifen: Es ist unstrittig, dass sich die USA künftig auf ein transatlantisches Pflichtsoll beschränken und andere Prioritäten setzen. Darauf im Prima-Klima-Papier nur mit dem Satz über „die strategische Souveränität Europas“ zu reagieren, wirkt fahrlässig. Sind nicht Vorkehrungen vonnöten, wenn in vier Jahren wieder ein republikanischer Präsident die USA regieren könnte? Womöglich Donald Trump, der in sich brodelnde Wut auf die EU versammelt. Realistisch betrachtet wird das „America First“-Mantra fortan jeder US-Administration der Richtwert sein. Von daher ist gut beraten, wer sich zu keiner Kollision mit China verleiten lässt, um amerikanischen Konfrontationswillen mit europäischen Weihen zu versehen. Schon greift der Irrsinn einer Boykottkampagne gegen die Olympischen Winterspiele 2022 in Peking um sich. Wird das von einer Regierung Scholz mit dem üblichen Lavieren bedacht oder klaren Widerspruch ernten? Zu den überlebten Gewissheiten zählt ebenso der Glaube an eine fortschreitende, demnächst finalisierte EU-Integration. Die Beitrittsaspiranten aus der südosteuropäischen Warteschleife müssen noch lange kreisen, hat soeben der Europäische Rat in Ljubljana wissen lassen. Das vereinte Europa kann sich keine Zugänge leisten, solange Abgänge wie der gemeinsame europäische Rechtsstaat in Aussicht stehen.
Es ist zu viel ins Wanken geraten, als dass eine „Fortschrittskoalition“ auch nur den Anschein erwecken darf, außenpolitisch fortfahren zu wollen, wo Angela Merkel aufhört. Dies käme einem Offenbarungseid allzu selbstbezüglicher Politiker gleich, die sich loben, statt zu verändern. In exemplarischer Weise wird das beim Klimaschutz deutlich. Was die Vorlage für Koalitionsgespräche an Aufbruch signalisiert, gilt weitgehend nationalstaatlichem Handeln. Es kann nicht außer Kraft setzen, dass man damit an Grenzen stößt, sobald die nach Europa überschritten werden. Über den Umgang mit einem akuten Ressourcenschwund im Gefolge der Klimaerosion wird in der gesamten EU ebenso entschieden wie in Deutschland. Vorausgesetzt, alle Mitgliedsländer können auf mehr Verteilungsgerechtigkeit innerhalb des Staatenbundes hoffen. Ist damit zu rechnen, wenn die designierten Koalitionäre auf den EU-Stabilitätspakt als quasi europäische Schuldenbremse setzen? Der zementiert geradezu das ökonomische Leistungsgefälle zwischen den EU-Staaten, was sich auf deren Beitrag zum Klimaschutz auswirken muss. Es ist wie beim absehbaren Verzicht auf höhere Steuern für Wohlhabende im eigenen Land – hehre Ziele müssen Zustände ändern, die erst dazu führen, dass es diese Ziele geben muss.
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