Man möge dies dann bitte bis zur letzten Konsequenz durchspielen: Wenn sich Großbritannien durch eine gegnerische Macht mit chemischen Waffen angegriffen wähnt, erfüllt das den Tatbestand einer Aggression, dann muss die NATO bemüht, um Beistand ersucht und notfalls der Bündnisfall erklärt werden. Dafür bietet der Artikel 5 des NATO-Gründungsvertrages von 1949 eine Handhabe. Wenn soweit nicht gegangen werden soll, ließe sich immer noch das in Artikel 4 verankerte Konsultationsgebot geltend machen. Danach sind Krisentreffen der Allianz fällig, sollte ein Mitgliedsstaat seine territoriale Unversehrtheit, Unabhängigkeit oder Sicherheit bedroht sehen. Warum bedient sich die Regierung May nicht dieser Optionen, wenn sie so genau weiß, was am 4. März in Salisbury passiert ist, welcher Kampfstoff gegen Sergej Skripal eingesetzt wurde, wer dafür die Verantwortung trägt? Weshalb wird auf das eher minimalistische Repertoire wie den Diplomatenrauswurf, die Sanktionen gegen russische Exiloligarchen und den Rückruf des EU-Botschafters aus Moskau zurückgegriffen?
Wer Russland zum Schurkenstaat stempelt, der vor einer schurkischen Regierung geführt wird – schließlich hat Außenminister Boris Johnson verkündet, Präsident Putin persönlich habe den Anschlag auf Skripal befohlen –, sollte um des großen Aufschlags willen an Eskalation auskosten, was sich anbietet. Und dann? Warten, was passiert? Das lässt sich vorhersagen: nicht viel, abgesehen von einer weiteren Zerrüttung des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen, der nur glaubwürdig bleiben kann, wenn er die heraufbeschworene Fehde ausreizt, von der rhetorischen zur realen Zuspitzung übergeht und sich unweigerlich dem Punkt nähert, an dem solcherart Konfrontation – wie es Matthias Platzeck als Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums formuliert hat – „zu einem nicht rückholbaren Vorgang“ wird.
Man erinnere sich an den Vorabend des Irak-Krieges. Anfang 2003 suggerierte die Bush-Administration, sie verfüge über durch nichts zu erschütternde Beweise, dass der irakische Diktator Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitze, die eine Gefahr für die internationale Sicherheit seien. Der damalige Außenminister Colin Powell legte dem UN-Sicherheitsrat – wie sich später herausstellte – gefälschte Beweise vor. Sie dienten dazu, einen Angriff zu rechtfertigen, der ein Land zerstörte und für Hunderttausende irakischer Zivilisten das Todesurteil bedeutete. Irgendwann geriet die Überzeugungskraft der Lügen derart erschlagend, dass daraus der nicht mehr „rückholbare Vorgang“ eines Krieges wurde. Als die Amerikaner tief im Irak standen, löste sich der Grund dafür in Luft und ein Staat im Nichts auf. Der heute mit geradezu religiöser Inbrunst erhobene Anspruch, Russland als das Böse schlechthin auszumachen, geht von Politikern aus, die wie einst Bush und Powell jedes Maß verlieren. Sie erliegen in ihrem tonangebenden Ungestüm keinem notorischen Reflex, sondern wissen, was sie tun. Die so angerichteten Schäden werden eines Tages irreversibel sein.
Mut zur Rationalität, bitte
Verhängnisvoll sind sie schon jetzt, weil Russland regelrecht dazu gedrängt wird, sich im Zwinger des Parias einzurichten und die gestellten Erwartungen zu erfüllen. Dies als Rückkehr des Kalten Krieges zu deuten, zeugt von Unkenntnis oder falscher Wahrnehmung. Dessen Markenkern war ein präventives Verhalten, um bei allen Gegensätzen, dem Sog des Unwiderruflichen zu entgehen. Möglich war das nur durch politischen Realismus, der sich dem Primat eines oft erstaunlich ideologiefreien geostrategischen Denkens verschrieb. Man wusste, was unaufhaltbar werden konnte, sollte eine rote Linie überschritten sein. Die Kuba-Krise von 1962 firmierte als Paradigma und Menetekel zugleich. Ein möglicher nuklearer Schlagabtausch ließ sich abwenden, weil die Sowjetunion einlenkte, und die USA darauf eingingen. Bei aller Gegnerschaft gestanden sich die Supermächte legitime Interessen zu, über die nirgendwo sonst als in Moskau und Washington befunden wurde. Was nichts daran änderte, dass man in Stellvertreterkriege zog: Mitte der 1980er Jahre in Afghanistan, als die USA islamistische Warlords gegen ein sowjetisches Besatzungskorps aufboten, während es zehn Jahre früher eine ähnliche Konstellation nur unter umgekehrten Vorzeichen in Indochina gegeben hatte. Doch blieb bei aller Eskalationsdynamik das Eskalationsrisiko beherrschbar, weil stets ein Axiom galt: keine atomare Konfrontation. Das SALT-Abkommen über Obergrenzen für offensive Kernwaffen wie dessen Kernstück, der ABM-Vertrag über limitierte strategische Abwehrsysteme, kamen 1972 zustande, bevor in Paris Anfang 1973 ein Agreement über den Frieden in Vietnam besiegelt war.
Warum kann sich der Westen nicht dazu aufschwingen, Wiederholungstäter der Vernunft zu sein, wie blutleer dies der propagandistischen Avantgarde des Russland-Bashings auch erscheinen mag? Offenbar ist die Zukunftsgewissheit der liberalen Ordnung in Politik und Ökonomie derart labil, dass der Glaube an eine zivilisatorische Exklusivität gegenüber Rivalen wie Russland und China als schicksalhaft empfunden wird. Nur sollte bei aller daraus resultierenden Urteilswut nicht übersehen werden, je inniger man einen Gegner deklassiert, desto endgültiger wird daraus ein Feind, der bekämpft gehört. Wenn Russland so ist, wie derzeit angenommen und kolportiert, kann es damit umgehen. Und zwar auf eine Weise, dass die hedonistischen Gesellschaften des Westens dem nicht gewachsen sein werden. Noch ein „nicht rückholbarer Vorgang“.
Weiß die Regierung Merkel um diese Schwäche? Wenn ja, könnte sie sich an das Beispiel der beiden deutschen Staaten in den 1980er Jahren halten, die auf Ausgleich zwischen Ost und West achteten und nicht Rottenführer der Konfrontation sein wollten. Dazu braucht es Mut zur Rationalität statt einer Politik, die sich von Stimmungen vereinnahmen lässt. Alles andere hieße, um den Historiker Christopher Clark zu bemühen, mit schlafwandlerischer Sicherheit und sehenden Auges einem Abgrund entgegenzugehen, den Deutschland kein drittes Mal überstehen dürfte.
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